Politik, Forschung, Wirtschaft – sie alle haben ihre je eigene Sicht auf die frühe Förderung und die schul- und familienergänzende Betreuung. Der Schweizer Bildungstag vom 3. September 2021 im Kursaal in Bern setzte beide Themen ins Rampenlicht. Organisiert wurde der Anlass, der alle zwei Jahre stattfindet, von den Lehrerinnen- und Lehrerdachverbänden der Deutschschweiz und der Romandie, dem Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) und dem Syndicat des Enseignant∙es Romand∙es (SER).
Hebel für Bildungsgerechtigkeit
Silvia Steiner, Präsidentin der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), sprach in ihrem Grusswort die Bedeutung der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) für die Bildungsgerechtigkeit an. «FBBE gehört zu den grössten Hebeln, um allen Kindern unabhängig von ihrer Herkunft gute Chancen für das Lernen und für einen guten Schulstart zu geben», erklärte sie. Wichtig sei es, dafür auch die Eltern zu erreichen, um ihnen die bestehenden Angebote näherzubringen.
Kindheit nicht instrumentalisieren
Heidi Simoni, Leiterin des Marie Meierhofer Instituts für das Kind, äusserte in ihrem Referat die Sorge, dass Massnahmen in der frühen Kindheit ausschliesslich auf die Schullaufbahn ausgerichtet und damit instrumentalisiert werden. «Im Zentrum muss das Wohl des Kindes stehen», sagte sie. Sie ermöglichte zudem einen ersten Einblick in eine Langzeitstudie, bei der Kinder und ihre Familien während sieben Jahren begleitet wurden. Ein Resultat ist, dass eine gute Qualität in Kitas die soziale und emotionale Entwicklung junger Kinder langfristig begünstigt, bis ins Schulalter hinein.
Frühe Förderung zahlt sich aus
Martin Eichler, Chefökonom von BAK Economics, zeigte auf, wie sich ein Betreuungsausbau finanziell auswirken würde. In seinem Rechenbeispiel ging er davon aus, dass die Vollzeitplätze in der Kinderbetreuung um einen Drittel erhöht würden, während der Kostenanteil für die Eltern um einen Drittel gesenkt würde. Dies würde positive Veränderungen auf verschiedenen Ebenen anstossen, beispielsweise höhere Steuereinnahmen, bedingt durch vermehrte Erwerbseinkommen der Mütter. «Dadurch würde das BIP-Niveau langfristig höher liegen. Investitionen in FBBE lohnen sich», hielt Eichler fest.
Forderungen an der Präsidentenkonferenz
Am Nachmittag fand die gemeinsame Sitzung von LCH und SER statt. Die Dachverbände verabschiedeten einen gemeinsamen Appell zu FBBE. Darin fordern sie die entsprechenden Stellen auf, eine gesetzliche Grundlage für FBBE zu schaffen, verbindliche Qualitätsrichtlinien festzulegen, die finanzielle Ausstattung zur Verfügung zu stellen und Forschung und Evaluation in diesem Bereich zu fördern. In einem zweiten Appell fordern sie bezüglich familien- und schulergänzenden Tagesstrukturen, dass diese bedarfsgerecht für alle Schülerinnen und Schüler zur Verfügung stehen, die Qualität durch verbindliche Standards gesichert wird, die Infrastruktur barrierefrei und geeignet für die Nutzung ist und dass die Preise für alle Familien tragbar sind.
Wie weiter mit LCH und SER?
Michael Zurkinden und Christoph Gitz von der Beratungsfirma B'VM präsentierten die Ergebnisse einer Umfrage der Arbeitsgruppe Formation.CH. Diese hatte bei den Mitgliedsorganisationen vier Szenarien für eine verstärkte Zusammenarbeit von LCH und SER beziehungsweise Fusion in die Vernehmlassung geschickt. Der Vorschlag, der einen Ausbau des bestehenden Kooperationsmodells vorsieht, erhielt am meisten Zuspruch, gefolgt vom Vorschlag eines gesamtschweizerischen Verbands mit Sitz in Bern. «Obwohl es für diese Szenarien viel Zustimmung gab, wurden auch wichtige Kritikpunkte genannt. Wir werden deshalb nicht einfach diejenige Lösung umsetzen, die am meisten Zuspruch erhielt, sondern möchten an zwei neuen Szenarien weiterarbeiten», erklärte Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin LCH.
Dabei sollen auch Rückmeldungen einfliessen, die zu den anderen beiden Szenarien eingereicht wurden. Die Präsidentinnen und Präsidenten stimmten diesem Vorschlag zu. Sie entschieden, dass die Arbeitsgruppe Formation.CH zusätzlich in ihren Vorschlägen eine Variante für eine evolutionäre Strategie entwickeln soll, bei der aus der verstärkten Zusammenarbeit in einem späteren Schritt ein gemeinsamer Dachverband entstehen kann.