Tagesbetreuung: Vom Flickenteppich zur Tagesschule?

22.09.2015 – Die Wirtschaft braucht gut ausgebildete Männer und Frauen. Welche familienergänzenden Betreuungsangebote braucht es, um dies zu realisieren? Mit diesen Fragen befasste sich die Tagung «Von Tagesstrukturen zu Tagesschulen» vom 16. September 2015.

«Familienergänzende Betreuung muss vorhanden, gut und zahlbar sein.» «Den Tagesschulen gehört die Zukunft.» Dies sind zwei Aussagen von Fachpersonen, die an der Tagung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften vom 16. September 2015 zum Thema «Von Tagesstrukturen zu Tagesschulen» referierten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen pädagogischen Bereichen, Schulleitungspersonen, Politikerinnen und Politiker, Fachpersonen aus der Tagesbetreuung und Sozialarbeit waren sich einig, dass familienergänzende Betreuung in der heutigen Gesellschafts- und Arbeitskultur nötig ist. Über Nachfrage, Angebot, Strukturen und Qualität von Betreuungsangeboten und selbst über die Begrifflichkeit herrscht aber über die ganze Schweiz gesehen ein sehr differenziertes und uneinheitliches Bild, wie Dominique Chételat, Chef des Informations- und Dokumentationszentrums IDES der EDK ausführte. So reglementieren die meisten Kantone zwar die Tagesstrukturen in ihren recht-lichen Grundlagen entweder als Muss- oder Kann-Vorschrift. Aber die Angebote reichen vom Minimal-angebot Aufgabenhilfe, Mittagstisch, über betreute Randzeiten bis zur Tagesschule mit ganztägiger Betreuung.

Tagesschule anstatt Flickenmodell
Häufig sind diese Angebote auch dezentral organisiert, die Wege von einem zum andern lang, die Zu-sammenstellung des «Menüs» für Eltern und Kinder umständlich und aufwändig. «Die Umsetzung der Tagesbetreuung ist ein teures, ineffizientes Flickensystem», kritisierte Monika Büttler, Professorin am Schweizerischen Institut für Empirische Wirtschaftsforschung der Universität St. Gallen in ihrem Referat. Tagesschulen mit integrierter Betreuung böten sich als geeignete und weltweit für gut befundene Bildungform deshalb an. Solche Tagesschulmodelle erforderten nicht höhere finanzielle Aufwendungen als das heutige Flickenmodell mit Schule plus Betreuung, ist sie überzeugt.

Unterstützung erhielt sie auch von Barbara Custer, langjährige Schulleiterin einer Schule mit Tagesstrukturen und Mitglied der IG Pro-Tagesschulen. «Den Tagesschulen gehört die Zukunft», sagte sie. «Die gesellschaftlichen Veränderungen erfordern, die Wirtschaft verlangt dies.» Der administrative Aufwand bei der heutigen Form, wo Kinder je nach Bedarf für die unterschiedlichen Angebote angemeldet werden, sei viel zu gross. Wenn die modularen Angebote Schritt für Schritt ausgebaut werden und viele Familien diese nutzen, kommen Schulen und Gemeinden an ihre Grenzen und dann werde der Schritt zur Tagesschule erfolgen müssen. «Besser aber ist es, neue Schulen von Anfang an als Tagesschulen zu konzipieren», betonte sie. Um die Entwicklung und Koordination von Tagesbetreuung und Tagesschulen zu steuern und zu regeln, «braucht es ein Kompetenzzentrum», betonten sowohl Barbara Custer als auch Ursula Rellstab, von der IG Pro-Tagesschulen.

Wunsch und Realität klaffen auseinander
Der Wunsch von jungen Männern und Frauen, Beruf und Kinderbetreuung miteinander zu vereinbaren, ist da. Die Lebensverläufe von Paaren sehen aber anders aus, wie René Levy von der Universität Lausanne in seinem Referat aufzeigte. Haben Paare vor der Geburt eines Kindes noch egalitäre Absichten was die Aufteilung von Beruf und Familienbetreuung betrifft, so verändern sich diese mit der Geburt des ersten Kindes hin zur traditionellen geschlechtsspezifischen Aufgabenverteilung. «Paare tun also nicht, was sie wünschen, sondern, was sie tun müssen.»

Dass sich die Berufstätigkeit des zweitverdienenden Elternteils finanziell unterschiedlich lohnt, zeigte das Rechenbeispiel von Monika Büttler. So lohnt sich ein Zweitverdienst nach Abzug der Steuern am besten, wenn dieser 20% nicht übersteigt. Je höher der Beschäftigungsgrad desto weniger bleibt nach Abzug der Steuern vom zusätzlichen Einkommen in der Haushaltskasse – bei einem 100%-Job sind dies im schlechtesten Fall gar nur noch 15%. Berücksichtigt man noch die Kosten für die Nutzung eines oder mehreren Tagesstrukturangebote, sieht die Rechnung nochmals unvorteilhafter aus. Und mit jedem zu-sätzlichen Kind verschlechtert sich nach Aussage von Monika Büttler das Verhältnis. «Das führt dazu, dass gerade auch gutausgebildete Mütter zuhause bleiben.»

Qualität der Angebote ist zentral
Der Zugang zu Tagesstrukturen ist ein wichtiger Faktor für Chancengerechtigkeit in der Bildung. Dazu sollte von den Kantonen ein bedarfsgerechtes Angebot bereitgestellt, welches von den Familien freiwillig genutzt werden kann; dies das schriftliche Statement des Basler Erziehungsdirektors Christoph Eymann. Dabei müsse der Qualität und insbesondere der Aus- und Weiterbildung des Personals grosse Beachtung zukommen, betonte er.

Qualitätsmerkmale sind nach Aussagen von Esther Forrer, von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, und Patricia Schuler, PH Zürich, unter anderem die Fähigkeit nach einem ganzheitlichen Konzept interdisziplinär und intradisziplinär zusammenzuarbeiten mit geklärten Zuständigkeiten für gemeinsame Ziele.

Nadine Hoch, Mitglied der Eidgenössischen Koordinationskommission für Familienfragen (EKFF) und Susanne Stern, PH Zürich, stellten erste Resultate aus einer Studien der EKFF, u. a. zu Einschätzungen und Wünschen von Eltern und Kindern zur «Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Schule» vor. Diese wird im kommenden November veröffentlicht. Marianne Schüpbach von der Universität Bamberg schliesslich stellte allgemeine Erkenntnisse aus der Forschung zu Tagesschulen vor. Wer nutzt das Angebot von Tagesstrukturen und welche Kinder profitieren wie von den Angeboten? Welche Wirkung haben schulergänzende Angebote auf den Entwicklungsstand von Kindern nach den ersten beiden Schuljahren? Dazu gibt auch die Nationalfondsstudie «EduCare-TaSe – Tagesschulen und Schulerfolg», die Ende Februar 2016 abgeschlossen wird, Auskunft. Und schliesslich diskutierten auf dem Podium Bernard Gertsch, Prä-sident VSLCH, Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz, Monika Maire-Hefti, conseillère d’Etat du canton de Neuchâtel, und Beat W. Zemp, Zentralpräsident des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH, das Thema aus pädagogischer und politischer Sicht.

Text: Doris Fischer

Weitere Informationen
www.educare-schweiz.ch
www.sagw.ch/generationen
Positionspapier LCH Tagesstrukturen

Datum

22.09.2015