Standpunkte

Schule und Religion

«Weil sie christliche Werte im Schulalltag pflegt.» So wirbt auf einem grossen 3fach-Plakat im Bahnhof St. Gallen ein Vater für die private Sekundarschule «flade». Auf der offiziellen Schulwebseite der Stadt St.Gallen steht: «Die Katholische Kantonssekundarschule, genannt 'flade', ist eine vom Volksschulgesetz des Kantons St.Gallen anerkannte, jedoch von der Stadt St.Gallen unabhängige Sekundarschule. Als christliche Schule katholischer Prägung ist die flade dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der katholischen Kirche verpflichtet.» Wenn die Eltern seit mindestens drei Jahren im Kanton Kirchensteuer zahlen, ist der Schulbesuch kostenlos.

Konfessionelle Schulen gibt es einige in der Schweiz. Sie sind beliebt, unter anderem weil sie eine wertemässig homogene Schülerschaft anziehen und oft personalisierte Schulkonzepte anbieten. Üblicherweise sind sie auf staatlichen Webseiten nicht erwähnt. Im Vergleich zu den Niederlanden oder Australien mit sehr viel mehr Schulen mit religiöser Trägerschaft haben wir in vielen Kantonen doch unterdessen erstaunlich laizistische Verhältnisse. Die Aufklärung und die französische Revolution haben nachgewirkt.

Re-Christianisierung als Antwort auf islamischen Fundamentalismus

Viele Schweizer würden islamisch geführte «Kantonssekundarschulen» ablehnen, ein Hinweis für eine islamische Schule auf der kantonalen Webseite wäre tabu. Obwohl bald ein Drittel der Schweizer weder reformiert noch katholisch sind, hat sich im neuen Lehrplan 21 die Präambel mit humanistisch-christlichen Wertvorstellungen im Unterricht durchgesetzt. Öffentliche Schulen sind damit den nicht weiter definierten christlichen Werten verpflichtet, egal, was in ihrem Namen hierzulande bei Hexenprozessen und früher in den Kreuzzügen, während der Reformation oder bei der Kolonialisierung schon alles verbrochen wurde, egal was die Lehrperson selber glaubt und egal ob mehr als die Hälfte der Kinder an einer Schule gar nicht getauft sind. Mit dem aggressiveren Auftreten islamischer Fundamentalisten scheint in vielen Köpfen eine Re-Christianisierung der öffentlichen Schulen die richtige Antwort zu sein.

Frankreich oder auch Genf sind da klarer: Weltanschauliche und religiöse Symbole haben in den staatlichen Schulen keinen Platz. Trotzdem sind Werte und Ethik in laizistischen Schulen ein Thema. Schliesslich haben die Schweiz und Frankreich die Menschenrechtskonvention mitunterschrieben, welche die wesentlichen Umgangsformen und Grundrechte definiert. Und beide Länder haben eine Verfassung. Politiker müssen sich die Frage gefallen lassen, was die christliche Religion – ohne genau zu sagen was damit gemeint ist – auf staatlichen Webseiten und im Lehrplan zu suchen hat. Und warum die Menschenrechte und die Verfassung, im Gegensatz zur Religion mit eigenem Fach, im Geschichtsunterricht untergebracht sind und dort nur ein Mauerblümchendasein fristen.

Auf gesellschaftliche Standards und Menschenrechte besinnen

Ich räume in diesen Tagen gerade mein Büro auf und finde in einer alten Schweizer Illustrierten Schüleraufsätze aus dem Jahr 1977 zum Thema Wenn ich Lehrer wäre: «Ohrfeigen würde ich keine verteilen, aber dafür Strafaufgaben. (...) Die Lehrer sollten ausserhalb der Lehrerzimmer nicht rauchen. (...) Ich fände es besser, wenn die Protestanten zur gleichen Zeit Unterricht haben, wir aber nicht auch noch zusätzlich die Geschichte aus der Bibel mithören müssten.» Damals im Jahr 1977 war die grosse Mehrheit der Schweizer noch Mitglied einer Landeskirche und duldete Körperstrafen an den Schulen, auch an konfessionell geführten. Meine Grossmutter trug noch Kopftuch. Ein höhergestellter Mann hätte ihr kaum die Hand geschüttelt. Im Kanton St. Gallen waren die Schulen in vielen Dörfern noch in den 60er-Jahren nach katholisch und reformiert getrennt.

Wir sollten uns darauf besinnen, was wir unterdessen an gesellschaftlichen Standards und in internationalen Konventionen bestätigten Menschenrechten erreicht haben. Wer aus einem Bauchgefühl heraus nun wieder «christliche Werte» und Symbole vor sich herträgt, ohne genau zu wissen, was damit gemeint ist, grenzt sich zwar ab und findet vielleicht etwas Identität, hat aber im Grunde keine anderen Argumente und Sicherheiten als die islamischen Fundamentalisten. Da sind mir unsere verbindlichen Gesetze und die Verfassung transparenter und zuverlässiger.
 

Datum

05.10.2016

Autor
Jürg Brühlmann

Publikation
Standpunkte