Standpunkte

ÜGK: Premiere mit Fragezeichen

Wer 30 Jahre Bildungspolitik aus nächster Nähe in einem Spitzenamt verfolgt und mitgeprägt hat, der hat schon manche Premiere und Derniere erlebt. So liegt es nahe, dass ich für meinen letzten Beitrag in der Rubrik «Standpunkt» diesen Titel gewählt habe, zumal es binnen einer einzigen Woche aktuellen Anschauungsunterricht dazu gab.

Die Premiere der erstmaligen Überprüfung des Erreichens der Grundkompetenzen (ÜGK) auf nationaler Ebene fand zwar schon 2016 bzw. 2017 statt, deren Resultate wurden aber erst am 24. Mai 2019 in Bern von der EDK kommuniziert. Und in der gleichen Woche fanden auch noch die Dernieren des Schweizer Schulpreises in Luzern und der Bildungslandschaften in Bern in Form von Schlussveranstaltungen statt. Doch schauen wir uns die Premiere der ÜGK mal etwas genauer an.

Freude herrscht in Appenzell Innerrhoden, Katerstimmung hingegen in Basel

Am 24. Mai kommunizierte das Erziehungsdepartement Appenzell Innerrhoden die Ergebnisse der ÜGK wie folgt: «Die detaillierten Ergebnisse liegen nun vor und zeigen für die Schulen in Appenzell Innerrhoden ein erfreuliches Bild: In allen drei Fachbereichen haben sie Leistungen erbracht, die schweizweit zu den besten gehören.» Schaut man sich die Resultate genauer an, dann stellen sich trotz dieser Erfolgsmeldung einige Fragezeichen. Denn nur 62 Prozent aller getesteten Schülerinnen und Schüler erreichten 2016 in Mathematik die von der EDK vorgegebenen Grundkompetenzen am Ende der obligatorischen Schulzeit. Als diese Grundkompetenzen im Jahr 2011 an einer EDK-Plenarversammlung verabschiedet wurden, habe ich vor der Abstimmung explizit nachgefragt, wie viel Prozent eines Jahrgangs denn diese Grundkompetenzen erreichen sollen. Die Antwort der Projektleitung und der Politik lautete unisono: «Fast alle.» Das bedeutet in der Schulpraxis 95 Prozent, da Schüler mit sonderpädagogischer Betreuung individuelle Lernzielanpassungen haben und nicht an diese Grundkompetenzen gebunden sind. Die Resultate der ÜGK in Mathematik blieben aber weit hinter diesen Erwartungen zurück: So erreichten im Kanton Basel-Stadt lediglich 43 Prozent aller Schülerinnen und Schüler die Grundkompetenzen. Dies nahm die NZZ zum Anlass, ihre ausführliche Berichterstattung mit der süffisanten Formel «Katastrophales Zeugnis für die Basler Schulen» zu betiteln. Überall ging das Stirnrunzeln los: Ausgerechnet in Mathematik, wo doch die Schweizer 15-Jährigen beim letzten PISA-Test hinter Japan das zweitbeste Resultat aller getesteten OECD-Länder erreichten! Da kann doch etwas nicht stimmen, sagte sich auch die EDK und liess einen Audit-Report durch zwei ausgewiesene und unabhängige Fachpersonen aus Luxemburg erstellen.

Wenn die Hauptprobe misslingt, heisst das nicht, dass die Premiere gelingt

Die beiden Auditoren kritisieren in ihrem Bericht, dass es in Mathematik zu viele Aufgabenstellungen hatte, die mit schwierigen Texten umschrieben waren. Das ist ein bekanntes Problem in der Mathematik. Viele Schülerinnen und Schüler scheitern dann nicht an den mathematischen Kompetenzen, sondern weil sie die Textaufgaben nicht wirklich verstehen. Die Herstellung von Multiple-Choice-Tests mit anspruchsvollen Distraktoren ist zudem alles andere als trivial. Das weiss jede Lehrperson, die schon einmal solche Tests für den Gebrauch in ihrer Klasse entworfen hat. Die Auditoren bemängeln, dass die Herstellung der Test-Items nicht nach exakten wissenschaftlichen Verfahrensstandards erfolgte. Die grundlegenden «Coding Guidelines» wurden zum Beispiel erst im Nachhinein geschrieben, und der Aufwand für die Herstellung der Testaufgaben samt Übersetzung wurde unterschätzt. Nachtragskredite und eine Verlängerung des Zeitplans waren nicht möglich, was dann zu den bekannten Zeitproblemen führte. Daher konnten nach dem ersten Pretest auch nicht mehr alle überarbeiteten oder neu konzipierten Test-Items auf ihre Tauglichkeit hin überprüft werden. Die Hauptprobe war verpatzt und die Premiere der ÜGK lief je nach Kanton mehr schlecht als recht, wie wir jetzt wissen. Von der erwarteten 95-Prozent-Erfolgsquote ist man in allen Kantonen noch meilenweit entfernt.

Mindestanforderungen oder Normkompetenzen?

Das grundlegende Problem ist aber folgendes: Die Testaufgaben mussten sich auf die Grundkompetenzen beziehen, die 2011 von der EDK verabschiedet wurden und anschliessend in die drei sprachregionalen Lehrpläne – dem Lehrplan 21 für die deutsche Schweiz, dem Plan d’études romand für die Romandie und dem Piano di studio für die italienische Schweiz – integriert wurden. Aber die Schülerinnen und Schüler, die 2016 in der 9. Klasse getestet wurden, sind in der deutschen Schweiz noch gar nicht nach dem neuen Lehrplan 21 unterrichtet worden. Es wird noch einige Jahre dauern, bis wir bei der ÜGK von einem harmonisieren Lehrplan mit entsprechenden Lehrmitteln und einigermassen vergleichbaren Stundendotationen ausgehen können. Daher sprechen die Autoren in ihrer Zusammenfassung, dass die Premiere der ÜGK für Mathematik ein «komplexes, kompliziertes und hoch riskantes Pionierprojekt in der Schweizerischen Bildungslandschaft» gewesen sei. Die Auditoren empfehlen zudem, die Grundkompetenzen künftig als Normkompetenzen und nicht als Minimalstandards zu betrachten, da die von der EDK verabschiedeten Grundkompetenzen im internationalen Vergleich «extrem ambitiös» seien. Diese wurden 2011 ohne jede empirische Validierung verabschiedet, was damals auch der LCH bemängelte. Was trotz aller Harmonisierungsbemühungen bleiben wird, sind die extremen Unterschiede in der Zusammensetzung der Schülerschaft. Es nützt den Basler Lehrpersonen nichts, wenn sie die tollen Resultate der Appenzell-Innerrhödler sehen. Im einzigen Stadtkanton der Schweiz gibt es nun mal viel mehr Schüler aus bildungsfernen Schichten und fremdsprachigem Milieu als andernorts.

Operative Mängel und Motivationsprobleme

Im Audit-Bericht wird schliesslich auch kritisiert, dass die Governance der ÜGK nicht optimal gewesen sei und dass es wegen des hohen Zeitdrucks zu Problemen bei der operativen Umsetzung der Tests gekommen sei. Das kann ich bestätigen, da wir insbesondere von Lehrpersonen aus dem Bildungsraum Nordwestschweiz Rückmeldungen erhielten, dass die installierte Testsoftware auf den Computern nicht richtig funktionierte und die Testnavigation nicht den Erwartungen der Schülerinnen und Schüler entsprach. Zudem dürfte es Motivationsprobleme bei den Getesteten gegeben haben, weil dieser Test keine Noten gab und sie keine Rückmeldung erhielten. Für Sekundarschüler im letzten Schuljahr der obligatorischen Schule, die bereits einen Lehrvertrag in der Tasche haben, ist die Motivation für solche «Spiele» sowieso nur beschränkt vorhanden. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass nach der Umsetzung der harmonisierten Lehrpläne in allen Kantonen und nach dem Lernen aus den Fehlern dieses Pionierprojekts die Resultate der kommenden Mathematik-Tests deutlich besser werden. Das war bei PISA so, und es wird bei der ÜGK ebenso sein. Damit wir künftig aber nicht wieder Appenzeller Hochstamm-Äpfel mit Basler Kirschen vergleichen, müssen die Kantone und die EDK ihre Hausaufgaben erledigen. Denn sollten sich die Premieren-Pannen und das «naming and shaming» wiederholen, dürfte die Derniere der ÜGK nicht mehr fern sein.

Datum

18.06.2019

Autor
Beat W. Zemp

Publikation
Standpunkte