Der Bundesrat greift ein

Die Drohungen des Bundes werden konkreter. Mittels Vernehmlassung zum Sprachengesetz beabsichtigt er, das Erlernen der zweiten Landessprache auf der Primarstufe gesetzlich zu verankern. Die EDK bewertet den Eingriff als unverhältnismässig. Demgegenüber kann Beat W. Zemp, Zentralpräsident LCH, die Intervention nachvollziehen.

Bereits im Frühjahr 2014 hat Bundesrat Alain Berset in einer Fragestunde des Nationalrats klar Position zum Fremdsprachenstreit bezogen: Schülerinnen und Schüler müssen auf der Primarstufe eine zweite Landessprache lernen. Nur noch Englisch in der Primarschule zu unterrichten, sei keine Option. Der Bundesrat drohte schliesslich mit einer Intervention, würden sich die Deutschschweizer Kantone nicht an die EDK-Sprachenstrategie halten. Jetzt, da der Kanton Thurgau beschlossen hat, den Französischunterricht auf die Sekundarstufe zu verlegen und auch in den Kantonen Zürich und Luzern Initiativen mit ähnlichem Ziel hängig sind, hat der Bundesrat seine Drohgebärden konkretisiert: Am 6. Juli 2016 eröffnete er ein Vernehmlassungsverfahren zur Harmonisierung des Sprachenunterrichts. Ziel dessen ist es, den Unterricht in der zweiten Landessprache in der Primarschule gesetzlich zu verankern.

Drei Varianten zur Sicherung der Landessprachen
Der Bundesrat stellt drei Varianten zur Diskussion. Variante 1 schreibt vor, dass der Unterricht in der zweiten Landessprache spätestens am dem 5. Primarschuljahr einzusetzen hat. Variante 2 verankert das Modell 3/5 des HarmoS-Konkordats auf Gesetzestufe: Die erste Fremdsprache soll spätestens ab dem 3. Schuljahr, die zweite ab dem 5. Schuljahr unterrichtet werden. Eine der beiden Sprachen ist eine Landessprache, die andere Englisch. Die vom Bundesrat bevorzugte Variante 3 zielt schliesslich auf die formelle Sicherung der zweiten Landessprache ab. Sie legt fest, dass der Unterricht der zweiten Landessprache in der Primarschule startet und bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit dauern muss. An der Medienkonferenz vom 6. Juli 2016 forderte Alain Berset die Kantone auf, einzulenken und den Harmonisierungsauftrag umzusetzen. «Die Kantone sind für die Harmonisierung des Schulwesens zuständig. Sind ihre Bemühungen nicht erfolgreich, erlässt der Bund die notwendigen Vorschriften. Aber ich betone es noch einmal: Der Bundesrat würde es vorziehen, nicht einschreiten zu müssen. Deshalb der Appell an die Kantone, wirklich das umzusetzen, was sie entschieden haben.»

EDK zieht positive Bilanz der Harmonisierung
Die EDK-Sprachenstrategie von 2004 bildet die Grundlage für eine harmonisierte Lösung für den Sprachenunterricht im Sinne des Artikels 62, Absatz 4 der Bundesverfassung. Sie umfasst das Erlernen von zwei Fremdsprachen ab der Primarstufe und wird aktuell in 23 Kantonen umgesetzt. Der Kanton Aargau setzt sie teilweise um, die Kantone Appenzell Innerrhoden und Uri nicht. Am 1. Juli 2015 hat die EDK in Bern ihre Bilanz über die Harmonisierung der obligatorischen Schule präsentiert. Der Befund war positiv. Noch nie sei die obligatorische Schule so weitreichend harmonisiert gewesen, eine Bundesintervention sei aus Sicht der EDK nicht notwendig, sagte Christoph Eymann gegenüber den Medien. Jetzt, da der Bund das Vernehmlassungsverfahren zum Sprachengesetz eröffnet hat, zeigt sich der Präsident enttäuscht: «Eine erstmalige Anwendung der subsidiären Bundeskompetenz gemäss Artikel 62, Absatz 4 der Bundesverfassung muss im Lichte der gesamten Harmonisierung erwogen werden. Die EDK hat vor einem Jahr Bilanz gezogen und dabei festgestellt, dass diese Harmonisierung bereits sehr weit fortgeschritten ist. Die Verhältnismässigkeit des Eingriffs scheint mir vor diesem Hintergrund nicht gegeben», betonte Eymann.

Monika Knill, Thurgauer Regierungspräsidentin und Erziehungsdirektorin, ist ähnlich enttäuscht vom Entscheid des Bundesrats, eine Vernehmlassung zur Harmonisierung des Sprachenunterrichts durchzuführen: «Mit diesem Schritt greift der Bund unverhältnismässig in die Bildungshoheit der Kantone und in unser föderales Staatssystem ein», sagte sie gegenüber der NZZ vom 7. Juli 2016. Die Kantone seien in Sachen Harmonisierung der Volksschule gut unterwegs.

LCH stützt die Sicherung der Landessprachen
Im Gegensatz zur EDK kann Beat W. Zemp, Zentralpräsident LCH, das Handeln des Bundesrats nachvollziehen. «Es kann nicht angehen, dass man sich in gewissen Deutschschweizer Kantonen bewusst um das Frühfranzösisch foutiert», sagte er gegenüber 20 Minuten online vom 7. Juli 2016. Die Verfassung verlange, dass der Bund einschreite, sollten die Kantone die Harmonisierung nicht schaffen. Für Zemp ist die Verständigung der Bevölkerung in einer zweiten Landessprache sehr wichtig. Zudem sieht er die Durchlässigkeit in Gefahr, wenn Kantone das Französisch aus der Primarstufe verbannen: «Wer bezahlt sonst den Nachhilfeunterricht, wenn ein Thurgauer Primarschüler ohne Französischkenntnisse in einen anderen Kanton zügeln muss?», fragt er. Der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH stützt daher das Unterrichten einer zweiten Landessprache ab Primarstufe. Bereits im Herbst 2014 hat er sich gemeinsam mit dem Syndicat des Romands SER in einer Konsultativ-Abstimmung klar für eine Landessprache als erste Fremdsprache in der Primarschule ausgesprochen. (bm)

Medienmitteilungen
Medienmitteilung des Eidgenössischen Departements des Innern EDI vom 6. Juli 2016: «Der Bundesrat will die Stellung der Landessprachen in der Schule stärken» 
Medienmitteilung EDK vom 6. Juli 2016: «Eröffnung der Vernehmlassung zum Sprachengesetz des Bundes»

Pressestimmen
«Eingriff in die Bildungshoheit» (NZZ online, 7.7.2016)
Bersets heikler Eingriff im Sprachenstreit (NZZ online, 6.7.2016)  
Bundesrat erklärt Sprachenstreit zur Chefsache (SRF 1, 10vor10, 6.7.2016)
«Wir befürchten einen Streit zwischen den Landesteilen» (SRF 1, Tagesschau, 6.7.2016) 
Französisch spätestens ab der 5. Klasse (SRF News online, 6.7.2016)  
«Herr Berset versucht, die Kantone zu erpressen» (20 Minuten online, 6.7.2016)

Datum

07.07.2016