Standpunkte

Die verlorene Kindheit – Young Carers in der Schweiz

Wenn Eltern, Geschwister oder Grosseltern körperlich oder psychisch erkranken, übernehmen häufig auch Kinder und Jugendliche Pflege- und Betreuungsaufgaben. Oft schultern dann diese jungen Menschen Arbeiten, die normalerweise Erwachsene übernehmen müssen. Ihre Rolle wird jedoch öffentlich wenig wahrgenommen. Meist wissen nicht einmal ihre Lehrerinnen, Lehrer oder Lehrmeister, was diese Schülerinnen und Lehrlinge neben Schule und Ausbildung zusätzlich leisten.

Bis vor Kurzem fehlten genaue Zahlen darüber, wie viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene – im Fachjargon Young Carers und Young Adult Carers genannt – in der Schweiz betroffen sind. Zwei grosse nationale Onlinebefragungen liefern nun erstmals verlässliche Daten. In einer schweizweiten Onlineerhebung wurden Kinder von zehn bis 15 Jahren an 230 Schulen online befragt. Bislang nahm man an, dass der Anteil der pflegenden und betreuenden Kinder in der Schweiz bei vier bis fünf Prozent liegt. Nun muss diese Zahl nach oben korrigiert werden. Es sind fast acht Prozent Kinder und Jugendliche, die Angehörige betreuen oder pflegen – eine erschreckend hohe Zahl.

In einer weiteren Onlineumfrage gaben 3518 Fachpersonen aus dem Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich darüber Auskunft, was sie über Young Carers wissen und wie oft sie im beruflichen Kontext Kindern und Jugendlichen mit Pflegeaufgaben begegnen. Die Ergebnisse dieser Umfrage zeigen, dass Fachpersonen wenig vertraut sind mit dem Phänomen Young Carers. Dies erstaunt nicht wirklich. Young Carers fallen im Schulalltag oft erst auf, wenn sie beispielsweise unter Konzentrations- und Schlafmangel leiden oder ihre schulischen Leistungen abfallen.

Die oben beschriebenen Ergebnisse sind ein wichtiger Schritt, um auf die Situation dieser Kinder und Jugendlichen aufmerksam zu machen. Es braucht dringend politische und gesellschaftliche Massnahmen, damit Young Carers in der Schule, Ausbildung und Beruf besser unterstützt werden können.

Wir Lehrerinnen und Lehrer sind wichtige Ansprechpersonen, die mit der nötigen Sensibilität Kindern und Jugendlichen helfen können, in dieser schwierigen Situation wieder Entlastung zu erleben. Dafür braucht es aber niederschwellige Unterstützungsmassnahmen sowohl im Bereich der Schulsozialarbeit als auch in den betroffenen Familien selber.

Datum

03.12.2019

Autor
Dagmar Rösler

Publikation
Standpunkte