Die Schweiz steht als kleines Land in vielen Aspekten an der Weltspitze – und das ist gut so. Auch das Bildungssystem kann sich im internationalen Vergleich sehen lassen. Jedoch gibt es einen Aspekt des schweizerischen Schulsystems, der Verbesserungspotenzial aufweist: Die integrative Schule. Dies nicht wegen der unzulänglichen Arbeit von Lehr- und Fachpersonen oder Schulleitungen, sondern da es an einem Konzept und der entsprechenden Ressourcierung fehlt, die das Gelingen der integrativen Schule möglich machen.
Für die Zukunft der Schweiz ist es enorm wichtig, dass die von der Politik beschlossene integrative Schule so gut wie möglich gelingt. Ein qualitativ hochstehendes öffentliches Schulsystem stellt einen Garanten für eine verlässliche gesellschaftspolitische und florierende wirtschaftliche Situation dar. Jüngste Berichte über Gewalt an Schweizer Schulen sind ein Zeichen dafür, dass nun wirklich Handlungsbedarf besteht. Die Lehrerverbände und Fachpersonen wiesen schon bei der Einführung der integrativen Schule klar und deutlich darauf hin. Nun ist es höchste Zeit, zu handeln.
Es braucht mehr (ausgebildete) Heilpädagogen, mehr Logopädinnen, mehr Psychomotoriktherapie, mehr Schulsozialarbeiter, mehr heilpädagogische Lektionen und mehr Entlastung für Klassenlehrpersonen. Ja, es ist mir bewusst, dass dies ein Ruf nach viel «mehr» ist. Ich fordere dies nicht leichtfertig, sondern aufgrund meiner jahrelangen bildungspolitischen und heilpädagogischen Erfahrung in voller Überzeugung. Allzu oft habe ich den Satz gehört: «Wenn die Schule mit den vorhandenen Ressourcen besser arbeiten würde, gäbe es gar keine Probleme.» Wir an der Schule haben tagtäglich unser Bestes gegeben. Nun kann ich diesen Satz nicht mehr hören.
Es kann doch einfach nicht sein, dass lediglich 60 Prozent der heilpädagogischen Lektionen von ausgebildetem Personal erteilt werden (wie zum Beispiel im Kanton Zürich). Aufgrund des eklatanten Mangels an Heilpädagoginnen und Heilpädagogen werden diejenigen Schülerinnen und Schüler, die eigentlich das Recht darauf hätten, von einer Fachperson betreut zu werden, von Assistenten, Studierenden, Regellehrpersonen usw. betreut. «So schlimm kann das ja nicht sein, es geht ja, Schule findet statt!», denken die zuständigen Behörden. Die Rechnung für diese Fehleinschätzung wird, je länger man zuwartet, immer teurer.
Die Schule braucht die interdisziplinären Fachpersonen und die notwendige Zeit! In der Medizin ist es ganz klar, dass ein Internist keinen Kreuzbandriss am Knie operiert. In der Schule soll eine Klassenlehrperson alles richten. Dies ist aufgrund der enormen Heterogenität der Schulklassen einfach nicht mehr leistbar. Ich spreche mich aber nicht dafür aus, dass diverse Spezialisten abgesondert voneinander jeweils isoliert mit der Schülerschaft arbeiten.
Der zeitgemässe gelingende Unterricht auf der Volksschule findet in einem gut funktionierenden Miteinander eines multiprofessionellen Teams statt, in dem Verantwortungen und Abläufe geklärt sind. Da ist die Klassenlehrperson, die Französischlehrperson, die Logopädin, der Psychomotoriktherapeut, die Religionslehrerin, der Schulsozialarbeiter, die DAZ-Lehrperson, die Heilpädagogin usw. In einem gut abgesprochenen Setting entwerfen sie den optimalen Unterricht für die heutigen enorm heterogenen Klassen, und führen ihn durch. Natürlich kann dies beispielsweise durch Poollösungen oder die Bündelung sonderpädagogischer Ressourcen so gestaltet werden, dass die Schülerinnen und Schüler nicht zu viele Ansprechpersonen haben und eine nahe Beziehung zu den Lehrpersonen garantiert ist.
Das Wissen, wie integrative Schule gelingen kann, ist unterdessen vorhanden. Ich appelliere an die Politik, gemeinsam mit den Fachpersonen eine gute Situation für die integrative Schule in der Schweiz zu ermöglichen. Zudem ist die Schule aktuell eine der wenigen gesellschaftlichen Institutionen, die das in der Bundesverfassung verankerte Behindertengleichstellungsgesetz konsequent umsetzt. Schön wäre, wenn diese Umsetzung in der gesamten Gesellschaft geschehen würde. Die Schweiz könnte als eines der reichsten Länder doch auch in der Barrierefreiheit mittels einer echten Teilhabe aller an Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur an der Spitze stehen.