Aus dem LCH

«Für Junge braucht es andere Formen der Verbandsarbeit»

Seit einem halben Jahr leitet Antoinette Killias den LCH. Im Interview spricht sie über ihre Ziele mit dem Verband, warum ihr Integration wichtig ist und welche Rolle der Elefantenbach in ihrer Schulzeit gespielt hat.

Antoinette Killias übernahm im August 2022 die Geschäftsführung des LCH. Fotos: Gion Pfander

BILDUNG SCHWEIZ: Diese Ausgabe widmet sich den Schulreisen. Erinnern Sie sich noch an die Ausflüge während Ihrer Schulzeit?

ANTOINETTE KILLIAS: In meiner Schulzeit unternahmen wir nur wenige Schulreisen. Ich erinnere mich aber gut an den Ausflug, den wir in der ersten Klasse unternahmen. Er führte uns von Zürich Höngg nach Zürich Witikon an den Elefantenbach.

Was blieb Ihnen davon besonders in Erinnerung?

Es schien mir unglaublich weit weg zu sein. Erst viel später wurde mir klar, dass wir für die Reise gerade mal rund zehn Kilometer zurückgelegt hatten. An Details kann ich mich nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich blieb mir der Ausflug vor allem wegen des bildhaften Namens hängen.

Sie reisen heute noch gerne. Wohin hat Sie Ihre letzte Reise geführt?

Letzten Juni bin ich in den Iran gereist. Es war atemberaubend schön, Kunst und Kultur vor Ort zu erleben. Das war vier Monate vor Beginn der Unruhen. Für Touristengruppen waren die Spannungen nicht so offensichtlich. In den Gesprächen erzählten uns Iranerinnen und Iraner jedoch, dass sie frustriert sind und keine Perspektiven mehr sehen.

Warum ausgerechnet Iran?

Während meines Studiums hörte ich eine Vorlesung über islamische Kunst. Dabei hat mich der Iran besonders angesprochen. In der Schule lernten wir zwar von der Kultur der Römer und Griechen, aber kaum etwas über jene der Perser – obwohl diese Region die europäische Kultur nachhaltig beeinflusst hat.

Nach Ihrer Rückkehr übernahmen Sie im August 2022 die Geschäftsführung des LCH. Könnte man Sie als Quereinsteigerin in die Bildungslandschaft bezeichnen?

Ich betrachte mich als «teilweise Quereinsteigerin». Ich war ja 25 Jahre im Integrationsbereich tätig – davon 15 Jahre beim Hilfswerk Heks. Da arbeitete ich mit sozial benachteiligten Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund. Für die Integrationsprogramme war Bildung ein zentraler Bestandteil. Sie ist mir daher vertraut. Als Erwachsenenbildnerin habe ich ausserdem selbst Bildungskonzepte für die Integration entworfen. Neu kommt jetzt die Perspektive der Volksschule hinzu.

Wie haben Sie sich in die Welt der Volksschule eingearbeitet?

Ich habe viel recherchiert und Fachartikel gelesen. Es war mir aber vor allem wichtig, mit Lehrerinnen und Lehrern sowie weiteren Menschen aus der Praxis zu sprechen. Ihre Erfahrungen im Alltag decken sich nicht unbedingt damit, was gute Schule gemäss Forschung alles kann und soll. Idealerweise werden sowohl Forschungserkenntnisse als auch Erfahrungen aus der Praxis gleichermassen berücksichtigt. Zusammen ermöglichen sie eine Weiterentwicklung der Schule.

Was ist nach diesem halben Jahr Ihr Eindruck von der hiesigen Bildungslandschaft?

Es ist eine grosse Vielfalt an Herausforderungen, mit der Lehrpersonen im Alltag konfrontiert sind. Mein Arbeitsantritt fiel mit der LCH-Pressekonferenz zum Lehrpersonenmangel zusammen. Das ist jedoch nur eines der drängenden Themen. Die integrative Schule stösst an Grenzen, was nicht zuletzt mit fehlenden Ressourcen und der Arbeitsbelastung der Lehrerinnen und Lehrer zu tun hat.

«Es ist wichtig, nicht in starren Strukturen zu verharren.»

Wie kann der LCH in dieser Vielfalt fokussiert bleiben?

Indem er sich seiner zwei wesentlichen Aufgaben bewusst bleibt. Er ist ein Dienstleister für seine Mitglieder und stellt seinen Kantonalsektionen wichtige Dokumente mit ausgearbeiteten Argumentarien zur Verfügung. Das strukturiert die vielen Themen und Aufgabengebiete. Wir haben Positionspapiere, aber auch rechtliche Gutachten, die bei vielen wichtigen Themen Fakten und Orientierung bieten. Der LCH hat auf nationaler Ebene zudem eine grosse Ausstrahlungskraft. Da kann er gezielt seine Themen setzen.

Die Schweiz hat eine lange Verbandstradition. Was zeichnet heute einen modernen Verband aus?

Der LCH als einer der grössten Personalverbände ist jetzt schon sehr gut aufgestellt. Seine Mitgliederzahl ist auf hohem Niveau konstant, während andere Verbände einen Rückgang verzeichnen. Das ist eine gute Ausgangslage, damit sich der Verband weiterentwickeln kann. Es ist dabei vor allem wichtig, nicht in starren Strukturen zu verharren.

Und wie gelingt dies?

In dem man partizipative Strukturen schafft. Innerhalb des LCH wird viel in Gremien und Fachkommissionen besprochen und entschieden. Da wird sich aber die Kultur noch anpassen müssen. Generationenstudien zeigen, dass junge Menschen sich zwar einbringen, aber nicht unbedingt langfristig verpflichten wollen. Für sie braucht es andere Formen. Das können zeitlich und thematisch eingegrenzte Projekte sein. Während Corona ist zum Beispiel die Blitzumfrage zum Gesundheitsmanagement an den Schulen auf gute Resonanz gestossen.

Bei Berufsverbänden wie dem LCH ist die Altersvorsorge oft ein zentrales Thema. Für junge Lehrpersonen ist das nicht unbedingt das drängendste Problem. Warum sollen sie trotzdem Mitglied werden?

Als Verband arbeiten wir nicht monothematisch. Traditionell setzen wir uns für Arbeitsbedingungen und faire Löhne ein. Das betrifft auch junge Lehrpersonen unmittelbar und es besteht immer noch Handlungsbedarf – vor allem auf Stufe Kindergarten. Dazu kommen wichtige Diskussionen, die wir national anstossen können, um die Chancengerechtigkeit im Schulsystem zu stärken.

Inwiefern?

Da fällt mir auf Anhieb die Chancengerechtigkeit durch Frühförderung ein. Diese verbessert die Chancen für Kinder aus Familien mit geringerem Bildungsgrad. Als Folge davon ermöglichen Tagesstrukturen zudem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Frühförderung sollte darum ins Bildungssystem integriert werden.

«Ein früher Einstieg kann mögliche Defizite auffangen, zum Beispiel beim Wortschatz.»

Die obligatorische Schulzeit soll also ausgeweitet werden?

Nein. Es soll jedoch altersgerechte Förderung ermöglicht werden, die allen offensteht. Ein früher Einstieg kann mögliche Defizite auffangen, zum Beispiel beim Wortschatz. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder mit den gleichen Voraussetzungen in den Kindergarten kommen. In Basel-Stadt müssen fremdsprachige Kinder mit zu wenig Deutschkenntnissen beispielsweise eine Spielgruppen besuchen. Ich fände es sogar richtig, wenn auch andere Kinder mit sprachlichen Defiziten diese Möglichkeit hätten.

Angesichts des gegenwärtigen Lehrpersonenmangels ist das einfacher gesagt als getan.

Darum müssen wir als Berufsverband unbedingt dran bleiben. Der Lehrberuf braucht Unterstützung beim Berufseinstieg und gute Arbeitsbedingungen, damit die Menschen nicht wegen Überlastung vorzeitig den Beruf verlassen. Wichtig ist zudem, dass die sogenannten Laienlehrpersonen eine befristete Lösung bleiben. Ein tiefer Ausbildungsstatus der Lehrkräfte wirkt sich auch negativ auf die Bildung der Schülerinnen und Schüler aus.

Ihre berufliche Reise führte Sie über die Sozial- und Integrationsarbeit zum LCH. Wie haben Sie dort Fachkräftemangel erlebt?

Er war bei Weitem nicht so prekär wie heute im Schulsystem oder im Gesundheitswesen. Von meiner Tätigkeit mit Menschen mit Migrationshintergrund sehe ich aber ungenutztes Potenzial, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Viele dieser Menschen sind hoch qualifiziert, mit einer Bildungsoffensive könnten sie in den hiesigen Arbeitsmarkt besser integriert werden.

Die Rahmenbedingungen dazu gestalten Politikerinnen und Politiker. Welche Reise würden Sie diesen empfehlen, um eine gute Bildungspolitik kennenzulernen?

Finnland wäre eine gute Destination. Ich habe dort an einer Migrationskonferenz teilgenommen und eine Kultur erlebt, die Bildung grossschreibt. Bibliotheken sind nicht nur Archive für Medien. Es sind öffentliche Treffpunkte, wo man lesen, spielen oder sich zum Sonntagsbrunch treffen kann. Das Land investiert viel in Bildung, holt Kinder früh ab und selektioniert erst spät. Das stärkt die soziale Mobilität. Ausserdem geniessen finnische Lehrpersonen ein hohes Ansehen.

Datum

06.03.2023

Autor
Patricia Dickson

Publikation
Aus dem LCH