Rituale für den Wiedereinstieg

Händeschütteln, gemeinsame Kaffeepause, Morgenkreis – die Coronakrise hat derzeit viele Rituale aus Gesellschaft und Schule verbannt. Im Kurzinterview erzählt Jürg Brühlmann, Co-Herausgeber des Buchs «Rituale an Schulen», wie Rituale beim Wiedereinstieg in den Präsenzunterricht helfen können. 

Jürg Brühlmann, Sie standen für das Buch «Rituale an Schulen» mit zahlreichen Schulen in Kontakt. Wie hoch beurteilen Sie den Stellenwert von Ritualen an Schulen?
Die Vielfalt und die Dichte von Ritualen an den Schulen und im einzelnen Unterricht sind beeindruckend. Schule ist selbst ein Ritual, wie der Ritualforscher Christoph Wolf einmal sagte, und Schule ohne Rituale ist kaum vorstellbar. Manchmal werden rituelle Formen sehr bewusst eingesetzt und immer wieder hinterfragt, manchmal eher zufällig genutzt oder sie gelten als völlig selbstverständlich. Den Nutzen von Ritualen erkennen jetzt viele Eltern im Homeoffice: Der Arbeitstag in der Familie ist einfacher für alle Beteiligten mit Strukturen und Übergängen. Viele Schulen und Lehrpersonen haben für den Fernunterricht neue Rituale entwickelt und eingesetzt, u.a. bei der Kontaktaufnahme, beim Abschied, während dem gemeinsamen Austausch oder für Aufträge und Rückmeldungen.

Demnächst startet der Präsenzunterricht wieder. Doch mit den aktuellen Hygiene- und Abstandsregeln können einige Rituale wie der Morgenkreis nicht durchgeführt werden. Was bedeutet das für den Schulalltag?
Ich habe viele Schulen kennengelernt, die sehr kreativ sind im Erfinden oder Anpassen von Ritualen. Jedes Schulhaus hat andere Rahmenbedingungen: grosse oder zu enge Klassenräume, Korridore, Eingangshallen. Im Sommer kann einiges draussen stattfinden. Vielleicht funktionieren in den Räumen im Zickzack versetzte Kreise. Vielleicht werden auch bisher «heilige» Startzeiten für die Türöffnung neu überdacht und die Anfangszeiten leicht gestaffelt. Es gibt heute schon Schulen mit gleitenden Arbeitszeiten, wo Übergangsrituale erst nach Beginn oder gegen Ende des Arbeitstages stattfinden. So können grosse Räume von verschiedenen Klassen genutzt werden. An Schulen, die mit Halbklassenunterricht starten, bleibt noch etwas Zeit, um für die Zukunft neue Formen zu überlegen. Und vergessen wir nicht, viele Rituale während des Unterrichts werden genauso stattfinden wie bisher: Das Aufstrecken, gewisse akustische oder mimische Signale, das Setzen von Flaggen am Pult der Lehrperson, etc.

Mit welchen Ritualen können Lehrpersonen die Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts bereichern?
Der Wiederbeginn ist sicher ein sehr besonderer, einmaliger Moment – und er wird hoffentlich einmalig bleiben! Dafür gibt es keine Rituale. Am ehesten vergleichbar ist die Situation mit dem Start des Schuljahres nach den Sommerferien oder nach den Ferien generell, wenn sich alle wiedersehen. Es waren aber keine Ferien. Vielleicht hilft es, für den Start eine bewährte Form zu wählen, die den Kindern vertraut ist. Es gibt ja so viel zu erzählen. In der Schweiz wurde die Schulschliessung am Wochenende verfügt. Das war denkbar ungünstig, weil keine Vorbereitung, kein Abschied und keine Absprache möglich waren. Das war vermutlich ein Schock für einige Kinder. Da könnten wir wohl den Faden wieder aufnehmen.

Es kann gut sein, dass wir nicht mit einem Anfangsritual durchkommen und dann gleich in den Normalbetrieb wechseln können. Vielleicht müssen wir ein Ritual erfinden, dass uns mindestens in der Zeit bis zu den Sommerferien weiter begleitet. Das Virus ist unsichtbar immer noch da – physisch, aber auch psychisch. Die Kinder und Jugendlichen und sogar die Teams werden Schutz und Sicherheit brauchen, auch für die Seele. Die Schulen werden dafür gemeinsam Lösungen finden, das wünsche ich allen Kindern und jeder Lehrperson.

(Bild: iStock/SerrNovik) 

Datum

08.05.2020

Autor
Interview: Deborah Conversano