Zurzeit liegt ein Buch bei mir auf dem Nachttischchen, dessen Geschichte sich um zwei Männer dreht, die zwar fast am gleichen Ort wohnen, aber dennoch sehr unterschiedlich leben.
Der Israeli Rami Elhanan fährt ein Auto mit gelbem Nummernschild und braucht auf die West Bank fünfzehn Minuten. Bassam Aramins Nummernschild ist grün. Der Palästinenser lebt auf der anderen Seite der Mauer und braucht für dieselbe Strecke anderthalb Stunden, weil er lange Umwege fahren muss. Colum McCann beschreibt in «Apeirogon» die realen Leben dieser Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Was sie eint, ist der Einsatz für Frieden und Versöhnung – aber auch tiefe Trauer. Denn beide haben im endlosen Nahostkonflikt eine Tochter verloren. Beim Lesen in der bewegenden und aufwühlenden Geschichte blieb ich an einer Aussage hängen: «Wir dürfen den Gedanken, friedlich Seite an Seite zu leben, nicht länger von uns weisen», sagt dort Rami Elhanan. «Ich verlange nicht, dass wir alle glänzend miteinander auskommen, das wäre abgehoben und naiv, aber ich will, dass wir die Möglichkeit haben, miteinander auszukommen.»
Umwälzungen stellen unser Zusammenleben auf die Probe.
Ich möchte zwischen dem Nahostkonflikt und unserer Situation in der vergleichsweise wohlbehüteten Schweiz keine Parallele ziehen. Das Zitat aus dem Buch bringt aber auf den Punkt, wie ein Zusammenleben funktionieren kann: Es braucht Menschen, die an der Möglichkeit arbeiten, miteinander auszukommen. Wir befinden uns inmitten einer sich rasch verändernden Welt. Vieles ist im Umbruch. Obwohl wir in der Schweiz in einer privilegierten Situation sind, stellen diese Umwälzungen unser Zusammenleben auf die Probe. Und viele dieser Megatrends betreffen auch die Schule. Zwei davon picke ich an dieser Stelle heraus.
Die Schule muss einen Rahmen schaffen, der für möglichst alle funktioniert.
Da wäre zum einen die Individualisierung. Der Trend von der Fremd- zur Selbstbestimmung hat bedeutende Auswirkungen auf die Schule. Die Ansprüche der Erziehungsberechtigten bezüglich Individualität des eigenen Kindes werden weiter steigen. Die Wahlfreiheit nimmt zu und die gesellschaftlichen Leitplanken ab.
Die Schule muss trotzdem und gerade deshalb einen Rahmen schaffen, der für möglichst alle funktioniert. Die Schule steht in der Verantwortung, Kinder zwar individualisiert zu fördern, aber ihnen gleichzeitig eine Vorstellung für Gemeinsinn mitzugeben. Der zweite herausfordernde Megatrend ist die Pluralisierung. Sie beschreibt die Zunahme der Vielfalt in unserer Gesellschaft und somit auch in unseren Schulen. Die Heterogenität macht das Zusammenleben in der Schule spannend, aber auch zunehmend herausfordernder.
Die Frage, was Schulen selbst noch leisten können und was nicht mehr in deren Zuständigkeitsbereich fällt, müssen wir uns stellen. Die Schule und damit auch wir Lehrpersonen müssen Antworten darauf finden, welche Verhaltensvereinbarungen wir wollen, damit die Schule mit diesen grossen auf uns zukommenden Aufgaben klarkommen kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich darauf, diese Herausforderungen mit Ihnen zusammen anzugehen und danke Ihnen für die Unterstützung auch im neuen Jahr.
Ich bin froh, können wir diese Aufgaben in einem friedlichen Land angehen. Wir haben zwar Differenzen, aber zum Glück keine unüberwindbare Mauer, die unversöhnliche Lager trennt.