Standpunkte

Das Dilemma mit der Meldepflicht bei einer Gefährdung des Kindeswohls

Vor einem Monat wurde bekannt, dass in der Agglomeration Zürich die Mutter eines Fünftklässlers in das Schulzimmer stürmte und die Lehrerin vor den Augen der anwesenden Kinder tätlich angriff, während der Vater unter der Türe stehen blieb und unflätige Beschimpfungen brüllte. Grund der wüsten Szene: Die Lehrerin hatte zuvor bei der KESB eine Gefährdungsmeldung gemacht.

Seit Januar 2013 besteht für Lehrpersonen (und andere öffentlich-rechtlich tätige Personen) gemäss Art. 443 ZGB eine Meldepflicht. In Unkenntnis des Vorfalls ein paar Anmerkungen dazu. Ich bin mir sicher, dass diese Lehrerin es sich nicht einfach gemacht hat. Ganz bestimmt hat sie sehr sorgfältig beobachtet und sich mit anderen Lehrpersonen und an der Klasse Beteiligten ausgetauscht, bis sie sich für diesen weitreichenden Schritt entschieden hat.

Dieses Beispiel macht deutlich, dass die Frage, wann es sich um eine Kindeswohlgefährdung handelt, nie einfach zu beantworten ist. Das Zivilgesetzbuch lässt die Definition offen, weil sie gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen ist. In einer zunehmend wertpluralistischen Gesellschaft wird den Eltern ein grosser Ermessensspielraum überlassen, nach welchen Wertmassstäben sie ihre Kinder erziehen. Kann sich aber ein Kind körperlich, psychisch oder intellektuell nicht gesund entwickeln, muss genauer hingeschaut werden. Dazu gehören Elemente wie ausreichende Ernährung und Schlaf, genügende Körperhygiene, eine zumutbare Wohnsituation, Schutz vor körperlicher und seelischer Gewalt und vieles mehr. Diese Aufzählung allein zeigt, wie schwierig es ist zu urteilen. Ganz neu bietet die Fachstelle für Gewaltprävention der Stadt Zürich einen digitalen Fragebogen an. Aber auch dieses Ergebnis muss individuell im Kontext des Kindes ausgewertet werden.

Auch ich habe in den letzten Jahren schon einige Male eine solche Meldung veranlasst, auch bevor diese Meldepflicht bestand. Ich erinnere mich sehr genau an meinen ersten «Fall». Meine Schülerin, ein neunjähriges Mädchen, sehr still und zurückgezogen, erzählte mir, dass sie im gleichen Bett schläft wie der Vater. Die Mutter schlafe auf dem Sofa. Nun, ich hatte zwar ein komisches Gefühl, aber diese Aussage alleine war natürlich noch nicht Grund genug eine Meldung zu machen.

Als dann aber die Logopädin, die zufällig im gleichen Haus wohnte wie die Familie, meinen Verdacht aufgrund eigener Beobachtungen und Erzählungen teilte und ein böser Trennungskrieg losging, in dem der Vater mich als Verbündete gegen die Mutter vereinnahmen wollte, ergaben plötzlich tausend Beobachtungen wie bei einem Mosaik schliesslich ein Bild und ich gelangte an die zuständige Behörde. Auch ich hatte damals Angst vor dem Vater, ein Schwergewicht mit spürbarem, aggressivem Potenzial. Das Mädchen wurde fremdplatziert und der Vater zog, als ihm auch noch das Besuchsrecht entzogen wurde, nach Italien.

Missbrauch und sexuelle Gewalt festzustellen ist sicher eine der schwierigsten Angelegenheiten. Vielleicht interpretiere ich ja auch etwas falsch? Oder ich lasse mich durch meine eigenen Werte leiten? Und was, wenn ich mit meiner Einschätzung falsch liege? Aber auch bei konkreten Anzeichen körperlicher Gewalt ist die Umsetzung der Meldepflicht nicht minder heikel. Was, wenn die Eltern das Kind dafür bestrafen, dass es den Lehrpersonen etwas gesagt hat? Und wie soll ich als Lehrperson mit diesen Eltern je wieder in ein Vertrauensverhältnis kommen, was für eine gelingende Kooperation die wichtigste Grundlage ist? Und was, wenn die Familie damit in Bedrängnis kommt, einfach den Bezirk verlässt und sich so entzieht?

Jede Massnahme, die ein Kind betrifft, sei es eine sonderpädagogische oder eine familiäre, muss individuell entschieden und begleitet werden. Es gibt kein Patentrezept. Zugrunde liegt immer eine Bewertung der Vor- und Nachteile, der realen Veränderungsmöglichkeiten und eine Prognose für die Zukunft im Kontext aller eventuellen Konsequenzen. Lehrpersonen tragen auch hier eine grosse Verantwortung und gleichzeitig ein Risiko, weil sie nicht anonym bleiben. Es wäre schön, wenn dies von der Öffentlichkeit wahrgenommen und entsprechend wertgeschätzt würde.

P.S.: Am 28. November hat der Nationalrat entschieden, bei Verdacht auf Gefährdung des Kindeswohls die Meldepflicht auf andere Personen auszuweiten, die regelmässig mit Kindern arbeiten, beispielsweise Kita-Mitarbeitende oder Sporttrainer. Meldungen sollen aber nur erfolgen, wenn konkrete Hinweise vorliegen, dass die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität des Kindes gefährdet ist.

Weitere Informationen

Die Vernehmlassungsantwort des LCH «Meldepflicht bei Verdacht auf Gefährdung des Kindeswohls»

Datum

28.11.2017

Autor
Marion Heidelberger

Publikation
Standpunkte