Standpunkte

Erleichterter Zugang und erschwerte Bedingungen

Anlässlich der Delegiertenversammlung von Bildung Bern Mitte Juni verfasste ich mein Grusswort aus aktuellem Anlass zum Zugang zum Studiengang Schulische Heilpädagogin oder Heilpädagoge (SHP). Dies ist ein Thema, das nicht nur den Kanton Bern interessiert. Denn das Problem des Mangels an SHP besteht in allen Kantonen und die politischen Lösungsvorschläge treiben zuweilen seltsame Blüten.

Des Öfteren habe ich etwas neidisch von Zürich nach Bern geschaut, weil ich den Eindruck habe, da ist ein gescheiter Regierungsrat am Werk, der gut zuhört, verschiedene Standpunkte reflektiert und die Anliegen aus der Lehrerschaft Ernst nimmt. Nun aber habe ich im «Bund» vom 7. Juni 2017 gelesen, das Berner Kantonsparlament habe Anfang Juni einer Aufweichung des Zugangs zugestimmt. Neu braucht es für den Studiengang SHP kein Lehrdiplom für die Regelklasse mehr, es werden auch Personen mit Bachelorabschlüssen aus verwandten Studienbereichen wie Erziehungswissenschaften, Sozialpädagogik, Sonderpädagogik oder Psychologie zugelassen.

Das macht mich sehr betroffen, weil ich das gar nicht nachvollziehen kann. Und was dabei noch viel mehr erstaunt, also wenigstens mich, ist, dass diese Änderung mit 138 zu 1 Stimme bei 2 Enthaltungen angenommen wurde. Waren da die Stimmen aus der Lehrerschaft nicht gehört worden? Oder bin ich die Einzige, die mit diesem Entscheid eine massive Verschlechterung der Rahmenbedingungen für eine gelingende Integration sieht? Oder wird ernsthaft davon ausgegangen, dass mit diesem Entscheid der Mangel an richtig ausgebildeten SHP behoben werden kann?

Mit dieser Änderung geht der Kanton Bern zurück auf den Minimalstandard des EDK-Anerkennungsreglements. Das – nebenbei bemerkt – eh schon keine grossen Hürden baut. Und dem ursprünglichen Gedanken, als die Integration und somit der Studiengang SHP «geboren» wurde, längst keine Rechnung mehr trägt. Damals, bei der Konzeptionierung des Studiengangs, war für alle Expertinnen und Experten klar, die Grundvoraussetzung für die Weiterbildung zur SHP muss ein Lehrdiplom für die Regelklasse und wenigstens ein bisschen Berufserfahrung sein.

Bisher war der Kanton Bern in diesem Bereich strenger als andere Kantone. Dies wiederum, auch zu sehen bei der Ausbildung der Lehrpersonen für das Fach Englisch, führt zu einem «Ausbildungstourismus». Studierende holen sich dort die Befähigung, wo es mit dem wenigsten Aufwand verbunden ist. Ich mache das den Studierenden nicht zum Vorwurf. Das Bemühen um Profilierung der Pädagogischen Hochschulen bringt das mit sich und auch diese sind in – meist finanziellen – Sachzwängen. Der Kanton Zürich bietet schon länger einen verkürzten Studiengang zur SHP an, allerdings ist damit nur das Unterrichten innerhalb des eigenen Kantons möglich. Auch diese Lösung kann man hinterfragen, aber wenigstens ist sie den anderen Kantonen gegenüber fair.

Nun, was heisst dieser Entscheid im Kanton Bern nun konkret? Jemand, der beispielsweise Psychologie studiert hat, kann Schulische Heilpädagogik studieren und soll dann, gemäss Website der PH Bern, Expertin oder Experte für Unterricht in heterogenen Schulklassen sein. Ich arbeitete selber acht Jahre lang als Lehrerin für Integrative Förderung und war davor 16 Jahre als Primarlehrerin tätig. Wenn mir heute etwas in meinem schulischen Alltag nützt, dann ist es natürlich mein spezifisches Wissen und meine Begabung mit besonderen Kindern umzugehen. Aber viel mehr hilft mir, dass ich in jeder Klasse selber unterrichte habe, dass ich die Lernziele und die jeweiligen Lehrmittel kenne und dass ich weiss, was es heisst, Lehrperson mit Klassenverantwortung zu sein. Das jahrelange Ausprobieren und Umsetzen von Konzepten im Umgang mit verhaltensoriginellen Kindern und ein breites didaktisches Repertoire kommen mir zu Gute.

Um auf das Beispiel zurückzukommen: Eine Psychologin verfügt sicher über das nötige theoretische Wissen, aber kaum über die praktische Erfahrung im Umgang mit Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten. Und es sind eben genau diese, Kinder mit einer ADHS-Diagnose oder einem Defizit im sozial-emotionalen Bereich, die den Unterricht oft massiv stören und die Regelklassenlehrperson extrem belasten. Während des Studiums in Heilpädagogik werden zudem höchstens Grundkenntnisse der Didaktik vermittelt, Lehrplan und Lehrmittel nur am Rande gestreift. Und diese Person soll dann die Klassenlehrperson unterstützen und beraten? Förderpläne erarbeiten und geeignetes didaktische Material für den Unterricht bereitstellen? Konzepte anbieten für verhaltensauffällige Kinder, die auch dann greifen, wenn sie nicht selber im Schulzimmer anwesend ist?

In der Not frisst der Teufel Fliegen. Weil es nicht genug ausgebildete SHP gibt, werden die Zugangsbedingungen aufgeweicht. Sollte man nicht viel dringender mal genauer hinschauen, warum nicht mehr Regelklassenlehrpersonen dieses Studium absolvieren? Oder warum ausgebildete SHP nicht im integrativen Setting arbeiten wollen? Denn der Preis für diesen Entscheid, für diesen Qualitätsabbau bezahlen in erster Linie die Klassenlehrpersonen, die damit nicht entlastet werden sondern sogar oft belastet. Ganz zu schweigen von den Kindern, die nicht die Förderung und Unterstützung erhalten, die ihnen zustünde, auf die sie das Recht hätten.

Ich habe kein Verständnis für politische Entscheide dieser Art. Echte Problemlösestrategien sehen anders aus.

Datum

27.06.2017

Autor
Marion Heidelberger

Publikation
Standpunkte