Standpunkte

Lehrerinnen und Lehrer sagen Nein!

Am 28. Februar 2016 stimmen wir über die «Durchsetzungsinitiative» ab. Als Lehrerinnen und Lehrer müssen wir diese Initiative zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer zwingend ablehnen, denn sie ist ungerecht, undemokratisch, unverhältnismässig. Ausserdem schafft sie eine Zweiklassen-Gesellschaft und gefährdet damit die Integration in unserem Land und auch in unseren Schulen.

In den Standesregeln des LCH heisst es unter anderem: «Die Lehrperson wahrt bei ihren beruflichen Handlungen die Menschenwürde, achtet die Persönlichkeit der Beteiligten, behandelt alle mit gleicher Sorgfalt und vermeidet Diskriminierungen.» Diese Regel ist unserer Demokratie würdig und sollte so bestehen bleiben.

Aus Fehlern lernen

Vor zwei Jahren nahm eine knappe Mehrheit die Masseneinwanderungsinitiative an. Danach wurde schnell klar, dass die Auswirkungen des Begehrens zuvor nur oberflächlich diskutiert worden waren. Für die Forschung und die universitäre Bildung hatte das Abstimmungsergebnis äusserst negative Folgen, weitere Verschlechterungen stehen vor der Tür. Darum sollten wir bei der Durchsetzungsinitiative zuerst überlegen und dann abstimmen, und zwar Nein. Die Folgen der Masseneinwanderungsinitiative sollten sich bei der Durchsetzungsinitiative nicht wiederholen.

Zweiklassen-Gesellschaft unbedingt vermeiden

«Nicht statthaft sind systematische, willentliche oder fahrlässige Benachteiligungen von Lernenden wegen deren Denkart, Begabung, Geschlecht, geschlechtlicher Orientierung, Religion, familiärer Herkunft oder Aussehen.» Dies steht ebenso in den Standesregeln der Lehrerinnen und Lehrer und danach handeln sie. Unter familiärer Herkunft kann auch die Staatszugehörigkeit subsummiert werden. Die Geschäftsleitung des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH lehnt die Initiative vor diesem Hintergrund entschieden ab. «Die vielen ausländischen Kinder und Jugendlichen, die in der Schweiz leben, zur Schule gehen und später eine berufliche Laufbahn in Angriff nehmen, sollen nicht zu Bürgerinnen und Bürgern zweiter Klasse heranwachsen, für die eine andere Rechtsprechung gilt.» Vielmehr setzt sich der LCH für eine optimale Bildung aller Kinder und Jugendlichen ein, damit sie nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit erfolgreich im Arbeitsleben oder an einer Hochschule Fuss fassen und in ein gelingendes Erwachsenenleben starten können.

Mit der Durchsetzungsinitiative haben wir aber das Problem, dass unsere Schülerinnen und Schüler vom Rechtsstaat her plötzlich in «Ausländer» und «Schweizer» unterteilt werden. Dies dürfen wir nicht dulden. Und wir dürfen auch nicht riskieren, dass Kinder aus intakten ausländischen Familien von heute auf morgen ohne Mutter oder Vater aufwachsen müssen, weil sie oder er aufgrund eines geringen Deliktes ausgeschafft wird.

Auch geringe Delikte können zur Ausschaffung führen

Sicher: Kriminelle sollen nicht geschützt werden. Wer aber glaubt, dass mit der Durchsetzungsinitiative einzig «IV-Betrüger» und «BMW-fahrende Sozialhilfebezüger» im Visier stehen, der täuscht sich. Die Initiative definiert als Sozialmissbrauch auch geringe Delikte. Sobald eine Sozialversicherungsleistung unrechtmässig bezogen wird, liegt ein Sozialmissbrauch vor. Böswilligkeit, Bereicherungsabsicht oder fiese Tricks sind nicht nötig, um einen Sozialmissbrauch zu begehen. Es genügt eine Unachtsamkeit und Unkenntnis der Rechtslage. Angesichts unseres komplexen Sozialversicherungssystems kann ein unrechtmässiger Bezug einer Leistung schnell mal passieren, betroffen wären davon Ausländer und Ausländerinnen, die bestens integriert sind, die arbeiten und Familie haben.

  • Zum Beispiel ein deutscher Arzt: Er erhält eine Kinderzulage für seine Tochter, die aufs Gymnasium geht. Nach der Matur entscheidet sich die Tochter, vor dem Studium ein Jahr lang im Ausland zu jobben. Der Vater vergisst, den Ausbildungsunterbruch zu melden und bezieht weiterhin die Kinderzulagen, obwohl er kein Anrecht darauf hätte. Er hat so einen Sozialmissbrauch begangen, die Folge bei Aufdeckung: Automatische Ausschaffung nach Deutschland.
  • Zum Beispiel eine kanadische Musikerin: Sie wird Mutter und erhält eine Mutterschaftsentschädigung von der Erwerbersatzordnung. Acht Wochen später nimmt sie ein Engagement für zehn Aufführungen eines Musicals an. Sie unterlässt es, dies der Ausgleichskasse zu melden und bezieht weiterhin die Mutterschaftsentschädigung. Auch da droht die Ausschaffung, in ihrem Fall nach Kanada.
  • Zum Beispiel ein portugiesischer Teilinvalide: Er kann sein Pensum als Verkäufer um 10 Prozent erhöhen. Er vergisst diese Veränderung in seinen wirtschaftlichen Verhältnissen der IV-Stelle zu melden und bezieht die unveränderte IV-Rente. Sein Vergehen: Sozialmissbrauch. Bei Aufdeckung wird er nach Portugal ausgeschafft.

Rechtsstaat in Gefahr

Als Lehrpersonen können wir nicht wollen, dass Väter oder Mütter unserer Kinder aufgrund derartiger «Vergehen» ausgeschafft werden. Gerade darum haben wir Gerichte, die Situationen und auch die Verhältnismässigkeit einer Massnahme beurteilen. Die Initiative will hingegen nichts anderes als die parlamentarische Gesetzgebung aufheben und den Handlungsspielraum der Richter abschaffen. Sie verletzt das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung, indem sie eine Gruppe im Land, die Ausländer, unter Sonderrecht stellt. Sie verletzt ausserdem das Gebot der Verhältnismässigkeit, indem sie keinen Unterschied macht zwischen schweren Straftaten, die heute zur Ausweisung führen, und geringen Delikten. Sie ersetzt die Einzelbeurteilung durch einen Automatismus, als seien «Ausländer» keine Menschen, sondern Sachen. Die Initiative tritt Grundwerte, die in diesem Land über Jahrhunderte errungen wurden, mit Füssen. Darum ist es für uns Lehrerinnen und Lehrer eine Verpflichtung, diese Durchsetzungsinitiative abzulehnen. Gerade weil wir über genügend Bildung verfügen, müssen wir dem Populismus einen Riegel schieben.

Datum

09.02.2016

Autor
Franziska Peterhans

Publikation
Standpunkte