Josef Arnold hat eine klare Meinung zum Stellenwert der Frühförderung: «Die Einschulung der Kinder ist nicht die Stunde Null, der für ihre Entwicklung wichtige Grundstein wird bereits vorher in der frühen Kindheit gelegt.» So ist es für den ehemaligen Bildungsdirektor des Kantons Uri nur konsequent, sich als Präsident der Jury des Frühförderungspreises für Schweizer Berggebiete der Pestalozzi-Stiftung zu engagieren. Die Stiftung will die Qualität des Bildungsstandortes Schweiz fördern und die Chancengleichheit von jungen Menschen in Berg- und Randregionen weiter voranbringen. Sie hat zusammen mit dem Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) am 27. November 2019 im Restaurant Ustria Lags in Laax (GR) bereits zum vierten Mal den mit 20'000 Franken dotierten Frühförderungspreis verliehen. Josef Arnold wies darauf hin, wie wichtig öffentliche Mittel und Unterstützung für die Frühförderung sind. «Es darf nicht sein, dass diese an den Finanzen scheitert und damit nicht allen Kindern zugutekommt.» Denn Investitionen in die frühkindliche Bildung lohnen sich, wie Franziska Peterhans, Zentralsekretärin LCH und Vizepräsidentin der Jury, in der Medienmitteilung der Pestalozzi-Stiftung bekräftigt: «Wenn Kinder in frühen Jahren Anregung und gute Betreuung erfahren, dann ist eine wichtige Basis für den späteren Schulerfolg gelegt.»
Vorbild für andere Institutionen
Nachdem im Juni 2019 die Anmeldefrist abgelaufen war, hat die Jury alle 22 eingegangenen Bewerbungen von Institutionen der Frühförderung vertieft geprüft und mit allen Kandidaten telefonische Gespräche geführt. Zentral war dabei die Frage, welcher Aspekt beispielhaft für andere Institutionen sein könnte, wie Heidi Simoni erklärt. Die Leiterin des Marie Meierhofer Institut für das Kind hat als Jurymitglied die fachliche Expertise zur frühen Kindheit eingebracht. «Es geht nicht darum, überall das Rad neu zu erfinden, sondern wie es Institutionen gelingen kann, von anderen zu lernen.» In die engere Auswahl kamen fünf Projekte, die die Jury dann in September auch vor Ort besuchte. Der definitive Entscheid fiel der Jury aufgrund der hohen Qualität schwer, was aber ein gutes Zeichen sei, betont Simoni.
Weiterentwicklung über alle Stufen hinweg
Die Jury zeichnete schliesslich die Bündner Kinderkrippe Canorta Igniv als Preisträgerin aus. Die Organisation leistet vorbildliche Arbeit mit ihrem familienergänzenden Angebot an den drei Standorten Ilanz, Flims und Laax in der Surselva. Im Rätoromanischen ist Canorta der übliche Begriff für eine Kinderkrippe, während Igniv «Nest» bedeutet. «Der Name steht sinnbildlich für die Geborgenheit, die wir den Kindern mitgeben wollen, und für den Platz, damit sie sich weiterentwickeln können», führt Wieke van Vliet aus. Als Gesamtkrippenleiterin ist sie für die operative Führung aller drei Standorte verantwortlich. Die angesprochene Weiterentwicklung ist gleichzeitig der erste von drei Punkten, die für die Auswahl der Canorta Igniv gemäss der Jury ausschlaggebend war. So sieht das pädagogische Konzept vor, dass auch die Mitarbeitenden ihren beruflichen Horizont mit guten Weiterbildungen erweitern können. «Es ist einfach, in einem Bereich stehenzubleiben, aber auch sehr langweilig», umreisst van Vliet. «Wir wollen in Bewegung bleiben, aber das funktioniert nur, wenn die Mitarbeitenden Lust darauf haben, alleine hätte ich keine Chance.»
Trägerschaft und Krippenleitung Hand in Hand
Dass dies bei Canorta Igniv der Fall ist, belegt der zweite Punkt: das gut abgestimmte Zusammenspiel zwischen der Krippenleitung und dem Trägerverein, namentlich zwischen Wieke van Vliet und dem ehrenamtlich wirkenden Vereinspräsident Gion Lechmann. «Was das angeht, sind die beiden ein Dream-Team, die ihre Rollen mit grosser Verantwortung und Professionalität wahrnehmen», unterstrich Simoni in ihrer Laudatio. Das Aufgabenbewusstsein und damit auch die Grenze zwischen der operativen und strategischen Ebene stimme bei den beiden. «Während van Vliet für das pädagogische Konzept zuständig ist, hält ihr Lechmann als Fürsprecher, der das Nest nach aussen verteidigt, den Rücken frei.» Simoni spielte damit auf die Stellung an, die Lechmann als Rektor der Bündner Kantonsschule innerhalb der Bündner Bildungslandschaft einnimmt. Er habe erkannt, dass die Arbeit mit Kindern verantwortungsvoll sei und deshalb die Professionalität, die er aus seinem beruflichen Umfeld kenne, auch in der Frühförderung gelten müsse. «Wenn dies Schule machen würde, dann wären wir in der Schweiz einen riesigen Schritt weiter», fasste Simoni zusammen. Es bestünde aber Hoffnung für die Frühförderung, wenn solche gewichtigen Personen in verantwortungsvollen Stellen, wie beispielsweise kantonale und nationale Parlamentarierinnen und Parlamentarier, zur Preisverleihung gekommen seien.
Diese gute Vernetzung in der Region und im Kanton war schliesslich als dritter Punkt entscheidend für die Preisvergabe. Doch bis dahin war es ein weiter Weg, erinnerte sich Franz Gschwend, Gemeindepräsident von Laax. «Fing die Canorta Igniv vor einigen Jahren noch als Rohdiamant an, leuchtet sie nun hell und stolz.» Auch der Bündner CVP-Nationalrat Martin Candinas hat als Vorstandsmitglied des Verbands Regiun Surselva die Diskussionen rund um die Kinderkrippe mitgekriegt. Er freute sich deshalb umso mehr über den Preis als Symbol für die Entwicklung in der Kinderbetreuung in der Region, auch wenn diese zeitverzögert stattfindet. «Das Bedürfnis und die Nachfrage sind vorhanden und wir müssen ein entsprechendes Angebot für Familien schaffen.»
Richtigen Weg eingeschlagen
In seiner Dankesrede hob Gion Lechmann den Frühförderungspreis als ein Zeichen der Wertschätzung für die Arbeit hervor, die die Canorta Igniv und die Surselva geleistet haben. «Die Auszeichnung freut und ehrt uns ausserordentlich.» So habe sich die Kinderkrippe schon mal erfolglos für den Preis beworben – und sei trotzdem drangeblieben. Die Bewerbung sei nämlich eine Gelegenheit, den Marschhalt einzulegen, den man für gewöhnlich nicht mache, um über die Arbeit zu reflektieren, fand Lechmann. «Der Preis gibt uns die Motivation, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen und weiterzuentwickeln.» In Zukunft wolle die Canorta Igniv Kinder mit besonderen Bedürfnissen besser berücksichtigen und allgemein die Chancengleichheit hochhalten, bekannte der Präsident des Trägervereins. «Wir alle sind nicht Teil verschiedener Gesellschaften, sondern gehören zu einer einzigen.»
Sandra Locher Benguerel sieht ebenfalls Potenzial im Ausbau der Frühförderung. «Die Unterschiede können bereits vor Kindergarteneintritt so gross sein, dass diese während der gesamten Schulkarriere nicht mehr aufgeholt werden», erklärte die Präsidentin des Verbandes Lehrpersonen Graubünden (LEGR) und neu gewählte SP-Nationalrätin. «Die Frühförderung kann daher die Bildungschancen benachteiligter Kinder stark erhöhen.» Der Staat müsse hier noch mehr Verantwortung übernehmen, beispielsweise in Form von Modellen staatlicher Trägerschaft. Zudem sei es notwendig, den Berufsstand der Fachpersonen für die Früherziehung besserzustellen und gute Aus- und Weiterbildungsprogramme zu fördern. «Als Nationalrätin werde ich den Fokus auf dieses wichtige Thema richten und dann Vorstösse machen, wenn ich sehe, dass die zurzeit hängigen Vorstösse nicht ausreichen.»
Text: Maximiliano Wepfer
Fotos: Philipp Baer
Weitere Informationen
Medienmitteilung der Pestalozzi-Stiftung vom 27. November 2019: «Die Pestalozzi-Stiftung vergibt den Frühförderungspreis für Schweizer Berggebiete an die Kinderkrippe Canorta Igniv»
«Premi per promoziun d'uffants pitschens» (RTR, 27.11.2019)
«Bunura: Gion Lechmann ha plaschair dal premi» (RTR, 27.11.2019)
«Hohe Auszeichnung für Bündner Krippe» (Die Südostschweiz, 29.11.2019)
«Grund zur Freude bei der Canorta Igniv» (Ruinaulta, 29.11.2019)
«In premi per in exempel» (La Quotidiana, 29.11.2019)
«Frühförderung in Berggebieten ausgezeichnet» (Urner Wochenblatt, 30.11.2019)
Die Reportage zur Kinderkrippe Canorta Igniv können Sie in BILDUNG SCHWEIZ 12/2019 (Erscheinungsdatum 3. Dezember 2019) nachlesen.
Bündner Krippe gewinnt Frühförderungspreis
Die Pestalozzi-Stiftung hat gemeinsam mit dem LCH den mit 20'000 Franken dotierten Frühförderungspreis für Schweizer Berggebiete an die Bündner Kinderkrippe Canorta Igniv mit Standorten in Ilanz, Flims und Laax vergeben. Sie zeichnet sich durch die vorbildliche Organisationsstruktur und die gute Vernetzung in der Region aus.
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