Standpunkte

Diskussion um frühe Kindheit weiterführen

«Alle Mädchen und Jungen haben Zugang zu hochwertiger frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung.» (UNO-Nachhaltigkeitsziel 4.2. Bildungsagenda 2030)

Im Februar 2019 wurde die Publikation «Für eine Politik der frühen Kindheit» präsentiert. Diese Publikation soll in der Schweiz die politische Diskussion rund um die frühe Kindheit anregen und zum politischen Handeln befähigen und ermutigen. Verfasst wurde die Publikation durch INFRAS, eng begleitet und gesteuert von der Schweizerischen UNESCO-Kommission. Die Publikation und ihre Verbreitung wurde gefördert durch die Jacobs Foundation und die Stiftung Mercator Schweiz. Dem LCH und insbesondere mir ist es ein Anliegen, dass die politische Diskussion rund um die frühe Kindheit weitergeführt und verstärkt wird. In den letzten Jahren haben Bund, Kantone und Gemeinden, aber auch private Initiativen und freie Stiftungen durch Konzepte, Studien und Förderprogramme begonnen, die Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern zu verbessern. Doch der Handlungsbedarf bleibt gross. Wenn es nicht gelingt, eine kohärente Politik auf den verschiedenen staatlichen Ebenen zu etablieren und die zivile Gesellschaft miteinzubeziehen, bleiben die bisherigen Massnahmen ein Flickwerk mit wenig Wirkung!

Vielfältige Familienmodelle

Die Publikation bietet Inspiration und Argumente, um bisher fehlende gesetzliche Grundlagen zur Förderung der FBBE (Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung) zu schaffen. Politikerinnen und Politiker aller Stufen in Parlamenten und Exekutiven erhalten aber auch konkrete Handlungshinweise und Begründungen für die Umsetzung einer Politik der frühen Kindheit. Den Vertreterinnen und Vertretern der zivilen Gesellschaft zeigt die Publikation, wie sie ihre Ressourcen einbringen können. Meine Erfahrungen in der Praxis als Schulische Heilpädagogin im Kindergarten und in der Primarschule bestätigen die Aussage, dass die Herausforderungen für Familien bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf stark zugenommen haben: Die gelebten Familienmodelle sind heute sehr vielfältig. Die Familien sind kleiner geworden, viele Kinder wachsen vermehrt nur mit einem Geschwister oder als Einzelkind auf. Für diese Kinder ist es wichtig, dass in ihrem Wohngebiet Angebote für Erfahrungen mit anderen Kindern und Bezugspersonen zur Verfügung stehen. Gleichzeitig sind in immer mehr Familien beide Elternteile erwerbstätig und die Zahl der Einelternhaushalte ist gestiegen. Diese Familien sind darauf angewiesen, dass in ihrer Wohnregion professionelle Angebote für Betreuung und Erziehung zur Verfügung stehen.

Entwicklungsrückstände vermeiden

Meine Erfahrungen in der Schulpraxis bestätigen die Feststellung, dass zwischen der sozialen Herkunft der Kinder und den Bildungschancen ein enger Zusammenhang besteht. Nach wie vor prägt der Bildungsstand der Eltern den Bildungsverlauf der Kinder massgeblich. Dies bestätigt einmal mehr der Bildungsbericht 2018 der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung. Bereits beim Eintritt in den Kindergarten unterscheidet sich der Entwicklungsstand der Kinder aus privilegierten und weniger privilegierten Familien stark. Als erfahrene Pädagogin für die ersten Schuljahre kann ich bestätigen, dass die Weichen für die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung in den ersten Lebensjahren gestellt werden. Vor allem für Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen wäre es wichtig, dass sie früh gefördert und ihre Familien begleitet und unterstützt werden. Entwicklungsrückstände, die sich beim Kindergarteneintritt zeigen, können während der Schulzeit oftmals nicht mehr aufgeholt werden. Leider muss auch ich feststellen, dass sozial benachteiligte Familien bestehende FBBE-Angebote noch zu wenig nutzen. Selbst in Gemeinden, in denen bereits ein breites Angebot zur Verfügung steht, stellt sich die Herausforderung, wie Familien mit schwierigen Voraussetzungen – häufig mit Migrationshintergrund – lokale Angebote besser nutzen.

UNO-Nachhaltigkeitsziel verfolgen

Im Handlungsfeld «Angebote für alle gewährleisten» zeigt die Publikation auf, welches die Knackpunkte für den Zugang von sozial benachteiligten Familien sind. Es werden bewährte Programme und Projekte kurz vorgestellt und in den vertiefenden Fachinformationen wird das vorhandene Angebot der FBBE für die gesamte Schweiz eingeschätzt. Die Strategiegruppe kommt zu folgenden Einschätzungen:

  • Das Angebot der FBBE deckt den Bedarf der Familien in der Schweiz noch nicht.
  • Es sind grosse regionale Unterschiede bei der Versorgung mit FBBE vorhanden.
  • Auf Bundesebene ist die verfassungsrechtliche Grundlage der FBBE vorhanden.
  • Die gesetzlichen Regelungen auf kommunaler und kantonaler Ebene sind lückenhaft.

Das letzte Fazit beschäftigt mich am meisten. Obwohl die Gesetzesgrundlage auf Bundesebene vorhanden wäre, finden gute Projekte vonseiten Zivilgesellschaft und Schule keine Verankerung, weil die Themen der FBBE kantonal sehr unterschiedlich geregelt sind. In meinem Arbeitskanton sind die Zuständigkeiten je nach Thema in drei verschiedenen Departementen angesiedelt. Bereits seit 2013 fordert der LCH, dass die Zuständigkeit für Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung bei der EDK liegen soll. Als Präsidentin der LCH Stufenkommission Zyklus 1 empfehle ich allen Mitgliedsorganisationen und zugewandten Institutionen die Verbreitung der Publikation «Für eine Politik der frühen Kindheit». Es ist mir ein Anliegen, dass das UNO-Nachhaltigkeitsziel 4.2. der Bildungsagenda 2030 in der Schweiz zielstrebig verfolgt wird.

Bestellung der Publikation «Für eine Politik der frühen Kindheit»: www.unesco.ch

Datum

02.04.2019

Autor
Ruth Fritschi

Publikation
Standpunkte