Einiges in Bewegung in der integrativen Schule

Rund 70 Seiten hat die Redaktion von BILDUNG SCHWEIZ der integrativen Schule in der gleichnamigen Serie gewidmet. Mit Besuchen in Schulen, Gesprächen mit Fachpersonen und dem Wälzen von Fachtexten hat sie sich dem vielschichtigen Thema angenähert. Eine vorläufige Bilanz – denn allen Fragen konnte sie nicht nachgehen.   

«Zum Schluss der Serie erwartet die Redaktion von  BILDUNG SCHWEIZ nicht, auf alle Fragen der integrativen Schule eine klare Antwort zu haben – das wäre vermessen. Sie hofft vielmehr zu zeigen, welche Fragen es wert sind, klar beantwortet zu werden.» Dies schrieb Redaktor Maximiliano Wepfer zum Auftakt der Serie zur integrativen Schule in der Ausgabe 4/2021 (ab Seite 13). Seither sind zehn Monate vergangen. Mit der Februar-Ausgabe von BILDUNG SCHWEIZ, die am 1. Februar erscheint, endet die Serie. Zeit für einen Rückblick, um Bilanz zu ziehen und in die Zukunft zu schauen.

Sonderpädagogik-Konkordat: Bald 17 Mitglieder

Das 10-Jahr-Jubiläum des Sonderpädagogik-Konkordats war ein Auslöser der Serie: 2011 trat es in Kraft und entfaltete vorerst einige Dynamik. Doch seit dem Beitritt des Kantons Zürich im Jahr 2014 stagnierte die Zahl der beigetretenen Kantone bei 16. Just 2021 kam nun aber wieder Bewegung in den Kantonsreigen: Bern schaffte die für einen Beitritt notwendigen Grundlagen und ist auf dem Weg, das 17. Mitglied zu werden. Die Berner Erziehungsdirektorin Christine Häsler sagte in der Ausgabe 10/21 im Interview (ab Seite 12) dazu: «Endlich billigt das System jedem Schulkind einen Platz zu. Das Recht auf Bildung gilt für alle.» Bisher seien nämlich Kinder, die in Regelklassen nicht geschult werden konnten, gemäss Volksschulgesetz ausgeschult worden. Welche Konsequenzen es für einen Kanton hat, Teil des Konkordats zu sein oder eben nicht, beleuchtete ein Artikel ab Seite 20 derselben Ausgabe.

Unzureichende Datenlage zur integrativen Schule

Warum noch immer nicht alle Kantone dabei sind, erklärte Dorothee Miyoshi, Mitglied der Geschäftsleitung LCH, in der Ausgabe 4/21 (ab Seite 18): «Ein Beitritt ist kein Muss, aber mit viel Aufwand verbunden, denn das kantonale Schulsystem muss entsprechend angepasst werden.» Im selben Interview bemängelte sie die unzureichende Datenlage zur integrativen Schule in der Schweiz.

Die «Statistik der Sonderpädagogik» des Bundesamts für Statistik (BFS), die seit dem Schuljahr 2017/2018 besteht, bildet für sie die späte, aber doch löbliche Ausnahme. 2019 und 2020 gab es dazu jeweils eine Medienmitteilung, die dabei half, das Wesentliche aus dem Zahlenberg zu erfassen. 2021 erschien diese begleitende Mitteilung nicht mehr. Laut BFS ist eine solche auch nicht mehr geplant. Die Zahlen werden aber weiterhin in einer Exceldatei veröffentlicht, nächstes Mal voraussichtlich Ende Februar 2022. Die Zahlen geben beispielsweise Auskunft darüber, wie viele Schülerinnen und Schüler eine Regelschule besuchen – im Schuljahr 2019/2020 traf dies auf 98 Prozent der Schülerinnen und der Schüler der obligatorischen Schule zu. Knapp 97 Prozent besuchten auch eine Regelklasse, 3,2 Prozent dieser Schülerinnen und Schüler nahmen verstärkte Massnahmen in Anspruch oder die Art der Massnahme war unbekannt. 

Digitale Landkarte zum Förderbereich

2021 wurden gleich zwei wichtige neue Publikationen zur Sonderpädagogik publiziert. Seit Anfang Juni ist eine digitale Landkarte zu den häufigsten Massnahmen im Förderbereich aufgeschaltet. Diese und das dazugehörige E-Book tragen den Titel «Integrative und separative schulische Massnahmen» oder kurz «InSeMa». BILDUNG SCHWEIZ stellte die Neuerscheinung in der Ausgabe 7/8 | 21 auf Seite 18 vor. Das Projekt des Schweizer Zentrums für Heil- und Sonderpädagogik und der PHBern ermöglicht es, mehr über die Fördermassnahmen in den verschiedenen Kantonen zu erfahren und diese direkt miteinander zu vergleichen. Nach wie vor fehlen jedoch Informationen aus den Kantonen Appenzell Innerrhoden und Solothurn.

Vertiefungsbericht beleuchtet Sonderpädagogik

Ende September erschien zudem erstmals ein Vertiefungsbericht zur Sonderpädagogik, der auf dem Schweizer Bildungsbericht basiert. Der Bericht schliesst mit seinen essenziellen Daten, Fakten und Studienergebnissen eine Lücke im Schweizer Bildungsmonitoring. Dies erlaube es erstmals seit dem Erscheinen des Bildungsberichts, die integrative Schule in der Schweiz effektiver zu steuern und anhand von Fakten weiterzuentwickeln, freute sich Dorothee Myoshi in einem Kommentar (Ausgabe 11/21, ab Seite 37).

Das politische Interesse an der integrativen Schule ist gering, wie eine Auslegeordnung in der Ausgabe 5/21 ab Seite 9 zeigte. Auch im vergangenen Jahr änderte sich daran wenig. Immerhin etwas Bewegung verspricht das inzwischen angenommene Postulat der Tessiner SP-Ständerätin Marina Carobbio Guscetti zur Förderung der Teilhabe von Menschen mit einer geistigen Behinderung am politischen und öffentlichen Leben. Hängig ist die Motion der Aargauer Nationalrätin Gabriela Suter (SP) zur Einrichtung einer Monitoringstelle, welche die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention überwacht.

Viel erfahren ...

Trotz Coronapandemie konnte das Redaktionsteam – immer unter Einhaltung der Massnahmen – auch vor Ort mit Akteurinnen und Akteuren der integrativen Schule sprechen. Sie besuchte fünf Schulen und erfuhr beispielsweise, wie ICT die Integration unterstützen kann (Ausgabe 11/21, ab Seite 32), wie Sporttalente trotz separater Förderung im Klassenverband eingebunden bleiben (Ausgabe 10/21, ab Seite 16) oder wie eine Schule sich vom «Gärtlidenken» hin zur integrativen Schule verändert hat (Ausgabe 9/21, ab Seite 33). Beleuchtet wurde aber auch, welchen Herausforderungen Jugendliche mit Beeinträchtigung beim Wechsel ins Berufsleben begegnen (Ausgabe 12/21 ab Seite 12 und in der ab 15. Februar online verfügbaren Ausgabe 2/22). Ein Interview mit zwei Lehrerinnen, die sich beide als behindert bezeichnen (Ausgabe 9/21, ab Seite 38), ist ebenso Teil der Serie wie die persönlichen Eindrücke von zwei Familien, deren Kinder mit Trisomie 21 die Regelschule besuchen (Ausgabe 1/22, ab Seite 16). 

... noch so viel zu fragen

Auch 70 Seiten später gibt es Lücken: Während Schulische Heilpädagoginnen und -pädagogen und ihre zu geringe Anzahl häufig angesprochen wurden, blieben Logopädinnen und Logopäden, Lehrpersonen für Deutsch als Zweitsprache (DaZ) oder Psychomotoriktherapeutinnen und -therapeu-ten nur am Rande erwähnt. Auch hätte ein Besuch einer Sonderschule aufzeigen können, welche wichtige Rolle diese weiterhin spielen. Eine heikle Frage wirft schliesslich eine Forschungsarbeit auf, die im November den Schweizer Preis für Bildungsforschung 2021 erhielt. Die Studie hat ergeben, dass ein steigender Anteil an Kindern und Jugendlichen mit besonderem Bildungsbedarf mit negativen Folgen für die schulische Leistung der Klasse einhergeht. Allerdings zeigen sich diese Folgen erst, wenn der Anteil dieser Schülerinnen und Schüler in einer Klasse 15 bis 20 Prozent übersteigt (Ausgabe 1/22, Seite 9). Was dieser Befund für die Schule und den LCH bedeutet, diese Frage steht noch im Raum. Das Thema der integrativen Schule ist jedenfalls mit dem Ende der Serie längst nicht abgehakt.

 

Ab 15. Februar 2022 steht die Serie «Integrative Schule» auf der Website des LCH als Gesamt-PDF zum Download zur Verfügung. Die Redaktion freut sich auf Zuschriften und Meinungen zur Serie per Mail an bildungschweiznoSpam@lch.noSpamch

Datum

26.01.2022

Autor
Deborah Conversano