Gehen verbessert die Denkarbeit – auch bei Lernenden

Gehen fördert Kreativität, Kommunikation und Konzentration. «Walking Meetings» gelten als effiziente Alternative zur traditionellen Sitzung im Büro. Ist Gehen eine Chance für das Lernen in der Schule?

Gehen treibt die Denkprozesse an. Foto: Juliane Liebermann / unsplash

Ein Gedankenexperiment: Auf der Suche nach Ideen für die nächste Gruppenarbeit können die Lernenden wählen, ob sie sich an einen Gruppentisch setzen oder gemeinsam zu Fuss auf eine kurze «Brainstorming-Tour» gehen. Die obligatorischen Hausaufgaben beinhalten immer eine freiwillige «Walking-Option», also einen Vorschlag, wie eine Aufgabe mit Gehen kombiniert werden kann. Die Klassenlehrerin ihrerseits führt die ­Coaching-Gespräche mit ihren Schülerinnen und Schülern während eines Spaziergangs ums Schulhaus.

Mit Gehen nachhaltig kreativ

Gehen – egal ob im Schulzimmer oder im Park – kann laut einer Studie der Universität Stanford (2014) die Kreativität um bis zu sechzig Prozent steigern. Die In­­spiration bleibt auch bestehen, wenn man sich später hinsetzt. Andere Forschungsprojekte zeigen auf, dass Spaziergänge das Stresslevel reduzieren und die Gedächtnisleistung fördern können. Gehen aktiviert das Gehirn, verbessert die Laune und fördert die Kommunikation.

Für Apple-Gründer Steve Jobs war ein langer Spaziergang die bevorzugte Art, eine ernsthafte Unterhaltung zu führen. Er war dafür bekannt, seine Ideen beim Gehen zu entwickeln. Auch Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und Jack Dorsey, Mitgründer von Twitter, setzen auf «Walking Meetings». Vorstellungsgespräche mit Job-Kandidatinnen und -Kandidaten führen beide gehend.

Schritt für Schritt zur Idee

Betreffend Kreativität und Gehen waren jedoch weder Zuckerberg noch Jobs Pioniere. Schon seit Jahrtausenden gilt Gehen für viele Menschen als eine Quelle der Inspiration. Ob Philosoph Sokrates, die Komponisten Beethoven und Tschaikowski, der Literat Goethe oder Physiker Albert Einstein: Sie alle fanden Inspiration im und beim Gehen. Die Inspiration für die 6. Symphonie fand Beethoven bei seinen täglichen Spaziergängen in den Wäldern und Hügeln rund um Wien. Und Physiker Albert Einstein begann laut Erzählungen seine bahnbrechenden Aufsätze über die Relativitätstheorie an einem Abend im Mai zu schreiben – nach einem Spaziergang mit einem Freund durch Bern.

Gehen ist weltweit die meistverbreitete körperliche Aktivität, unabhängig von der Kultur.

 

Es ist schwierig, ein Argument gegen das Gehen als Kreativitätsquelle und In­spirationslieferant zu finden. Gehen ist weltweit die meistverbreitete körperliche Aktivität, unabhängig von Nationalität, Kultur und Religion. Gesund, kosteneffizient sowie zeit- und raumunabhängig scheint es die ideale Inspirationstechnik. Gehen ist ein bewegender Perspektivenwechsel. Studien belegen, dass es so einfacher ist, sich mit «Mitgehenden» zu verbinden und zu verbünden. Man bleibt auf Augenhöhe und richtet den Blick in die gleiche Richtung.

Laufband im Klassenzimmer

Trotzdem ist auf kaum einem Stundenplan in der Schweiz eine Lektion für sogenanntes «Walk & Talk» vermerkt. Sich zwecks Inspiration frei im Klassenzimmer oder Schulareal zu bewegen, gilt selten als alltägliches und akzeptiertes Lernverhalten. Die in diesem Text anfangs erwähnten gehfreundlichen Lernsettings sind reine Fantasie. Hirnforscher John Medina von der University of Washington findet solche Impulse jedoch notwendig. Ein «geh-hemmendes» Umfeld ergibt laut dem Forscher keinen Sinn. In seinem Buch «Gehirn und Erfolg: 12 Regeln für Schule, Beruf und Alltag» betont er: «Aus der Perspektive der Evolution ist es klar, dass sich unsere Hirne durch körperliche Bewegung weiterentwickelt haben, gehend oft mehr als zwölf Meilen pro Tag. Unser Hirn lechzt auch heute noch nach dieser Erfahrung.» Medina empfiehlt Laufbänder und Hometrainer in den Klassenzimmern. Die Kinder sollen mit Sportkleidern zur Schule kommen, damit Bewegung überall und jederzeit möglich wird.

Das Leben als Fussmarsch

Sich auf zwei Füssen fortzubewegen, spielt in der menschlichen Entwicklung eine Schlüsselrolle — sowohl für den Körper als auch für den Geist. Vorwärtskommen hat das Weltbild der Menschen über Jahrhunderte geprägt. Für viele unserer Vorfahren war das Leben nichts anderes als ein langer Fussmarsch. In seinem Buch «Gehen. Weiter gehen» befasst sich Autor und «Weltenwanderer» Erling Kagge mit der Geschichte des Gehens. Er erklärt darin, dass «Vergangenheit» in Sanskrit, einer der ältesten Sprachen der Welt, «gata» heisst. Übersetzt heisst dies so viel wie «wo wir gegangen sind». Für die Zukunft hingegen steht das Wort «anagata», zu Deutsch etwa «dort, wohin wir noch nicht gekommen sind».

«Anagata» umschreibt treffend die Verbreitung und Akzeptanz vom Gehen in einer grossen Anzahl der öffentlichen Schulen in der Schweiz. Das Bundesamt für Gesundheit empfiehlt Schülerinnen und Schülern minimal eine Stunde Sport respektive Bewegung pro Tag. Laut der Gesundheitsförderung Schweiz verbringen Kinder und Jugendliche tagsüber neunzig Prozent der Zeit sitzend, liegend oder in leichter Aktivität. In der Primarschule ist knapp jedes sechste Kind übergewichtig; in der Oberstufe ist es jeder fünfte Jugendliche. In vielen Fällen wird auch der Schulweg nicht mehr zu Fuss bewältigt. Das beeinflusst nicht nur die Kondition, sondern auch die Hirnleistung und Konzentrationsfähigkeit der Kinder.

Über 200 Muskeln sind aktiv

Es würde sich lohnen, dem Geist Beine zu machen. Die University of Illinois zeigte in einem Forschungsprojekt auf, dass sich zehnjährige Kinder, die zuvor zwanzig Minuten zu Fuss marschiert sind, besser konzentrieren können. Sie schnitten auch beim Überprüfen des Lernstoffs besser ab als jene Kinder, die sich nicht bewegten.

Besonders wichtig: Freiwilligkeit und Tempo.

 

Das dänische Projekt «Mass Experiment» bestätigte die Erkenntnisse aus den USA: Aus den über 20'000 teilnehmenden Kindern und Jugendlichen im Alter von fünf bis 19 Jahren konnten sich die Schülerinnen und Schüler, die zu Fuss zur Schule gingen, in den ersten vier Unterrichtsstunden deutlich besser konzentrieren als ihre «motorisierten» Mitschülerinnen und Mitschüler.

Trotz aller positiven Eigenschaften des Gehens sind zwei Aspekte besonders wichtig: Freiwilligkeit und Tempo. Experimente mit Mäusen zeigten auf, dass bei Tieren, die zur Bewegung gezwungen wurden, nur halb so viele neu gebildete Nervenzellen im Gehirn überlebten wie bei den Tieren, die sich freiwillig bewegten. Kindern und Jugendlichen zu verordnen, täglich dreissig Minuten lang zu rennen, hätte genau diesen Effekt. Was zählt, ist nicht die Geschwindigkeit, sondern die Bewegung, egal wie langsam: Bei jedem Schritt sind über 200 Muskeln im Einsatz. Das Gehirn ist damit beschäftigt, sie zu koordinieren, schüttet mehr Botenstoffe aus und bildet mehr Nervenzellen. Der Geist vergisst dabei den Stress und findet Freiraum für Kreativität. Mehr gehen, weniger grübeln.

Von wegen Humbug

Wer mit jemandem konfrontiert wird, der Gehen und die womöglich positiven Wirkungen der Bewegung auf Konzentration, Kreativität und Kommunikation als reinen Humbug einstuft, kann es dem griechischen Philosophen Diogenes gleichtun. Als er mit der These konfrontiert wurde, es gäbe überhaupt keine Bewegung, antwortete er: «Solvitur ambulando.» In Deutsch: «Es wird beim Gehen gelöst.» 

 

Weiter im Text

Erling Kagge: «Gehen. Weiter gehen», 2018, Insel Verlag, Berlin. John Medina: «Gehirn und Erfolg: 12 Regeln für Schule, Beruf und Alltag», 2009, Springer Spektrum Berlin, Heidelberg.

Weiter im Netz

Im Artikel zitierte Studien und Artikel:

Understanding Walking Meetings: Drivers and Barriers
auf www.researchgate.net

Give Your Ideas Some Legs: The Positive Effect of Walking on Creative Thinking
auf www.researchgate.net

Beethoven and the landscape: How walking in nature influenced his music
auf thehanoverband.com

Das Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz (PDF)
auf www.gesundheitsfoerderung.ch

Dieser Artikel erschien in der Dezember-Ausgabe von BILDUNG SCHWEIZ.

Datum

30.12.2022

Autor
Christa Wüthrich