Die Schweiz weist im europäischen Vergleich seit Jahren einen hohen Lebensstandard auf. Dennoch waren im Jahr 2020 8,5 Prozent der Bevölkerung von Einkommensarmut betroffen, wie das Bundesamt für Statistik (BFS) am 17. Februar mitteilte. Eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren gilt als arm, wenn sie weniger als 3963 Franken pro Monat zur Verfügung hat.
Bedenklicher Anstieg
Die Armutsquote stabilisiert sich laut BFS auf hohem Niveau. Ein genauer Blick in die Zahlen zeigt jedoch eine bedenkliche Entwicklung: Im Vergleich zum Vorjahr ist die Anzahl betroffener Kinder und Jugendlicher von 115’000 auf 133’000 angestiegen. Dies ist sowohl prozentual als auch in absoluten Zahlen der zweithöchste Wert seit 2010. Nur im Jahr 2018 waren mehr Menschen von 0 bis 17 Jahren von Armut betroffen, nämlich 144’000.
Die neusten Zahlen von Mitte Februar zeigen zudem: Bei den Einelternhaushalten gehörten 2020 16,7 Prozent zur Gruppe, die als arm bezeichnet wird, weitere 26,8 Prozent gelten als armutsgefährdet. Bei den Familien mit zwei Erwachsenen und drei oder mehr Kindern gelten 10 Prozent als arm und weitere 24,4 Prozent als armutsgefährdet.
Wenn es am Nötigsten fehlt
«In der Schweiz sind Kinder ein Armutsrisiko», sagt Yann Bochsler, Forscher an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz, gegenüber www.LCH.ch. Wer Kinder habe, brauche mehr Wohnraum, was höhere Mietkosten verursache. Hinzu kommen Betreuungskosten, die besonders bei Alleinerziehenden anfallen. Die Folgen der Armut werden in der Definition der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) deutlich: Unterversorgung in wichtigen Lebensbereichen wie Wohnen, Ernährung, Gesundheit, Bildung, Arbeit und sozialen Kontakten.
Für Jugendliche aus armutsbetroffenen Familien ist zudem der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt besonders schwierig, da dieser von finanzieller Unterstützung abhängt. Eltern sind verpflichtet, ihre Kinder bis zum Abschluss der Erstausbildung zu unterstützen; wer sich zum Beispiel ein Studium nicht leisten kann, benötigt Stipendien. Diese sind jedoch meistens nicht existenzsichernd, obwohl die SKOS das den Kantonen empfiehlt, kritisiert Bochsler.
Arbeiterkinder werden Arbeiterinnen und Arbeiter
Ausbildungen dauern heute länger als früher, womit die Kinder länger finanziell auf ihre Eltern angewiesen sind. Besonders Jugendliche mit schwierigen Bildungsläufen, die beispielsweise nach der Schule keine Anschlusslösung finden, brauchen gemäss Bochsler mehr Unterstützung. Die Kantone hätten in den letzten Jahren diesbezüglich mehr unternommen. Er sieht trotzdem noch Handlungsbedarf: «Unser Berufsbildungssystem ist nicht sehr effizient darin, soziale Ungleichheiten abzuschwächen.» Anders gesagt: Aus Arbeiterkindern werden Arbeiterinnen und Arbeiter. Die soziale Schicht zu wechseln, ist in der Schweiz schwierig.
Mehr über Armut in der Schweiz sowie den Druck, der deswegen auf jungen Menschen lastet, erfahren Sie in der aktuellen Ausgabe von BILDUNG SCHWEIZ. Der Artikel begleitet Jugendliche in einem Workshop, wo sie sich mit der Bedeutung der Armut auseinandersetzen.