Schulrecht

Sportunterricht ist keine Glaubensfrage

Es gibt verschiedene Gründe dafür, ein Kind vom Sportunterricht dispensieren zu lassen. Meistens klärt ein ärztliches Attest, ob das Anliegen gerechtfertigt ist. Bei religiösen Gründen wird es aber komplexer.

Die Glaubens- und Gewissensfreiheit steht somit dem obligatorischen Schwimmunterricht nicht entgegen. Foto: Stock/HeungSoon

Verletzungen, Menstruationsbeschwerden oder schlichtes Unwohlsein können die Teilnahme am Sportunterricht verunmöglichen. Ab und an kann einem solchen Dispensgesuch auch fehlende Motivation zugrunde liegen. Bei Verdachtsfällen verschafft die Vorlage eines ärztlichen Attests Klarheit. Werden für Dispense hingegen religiöse Gründe vorgebracht, wird die Beurteilung komplexer.

Dispense aus religiösen Gründen

Bereits mehrfach beschäftigten sich Gerichte mit Dispensen vom Schulunterricht aus religiösen Gründen. Die Gerichte mussten etwa überprüfen, ob religiöse Vorschriften den Yogaübungen im Kindergarten, dem Sexualkundeunterricht, dem Wintersportlager oder – wie im folgenden Fall – dem Schwimmunterricht entgegenstehen. (1) Der muslimische Glaube verbiete die Teilnahme am Schwimmunterricht, brachten Eltern im Kanton Basel-Stadt vor. Fortan blieben ihre Kinder dem Unterricht fern. Das Erziehungsdepartement büsste die Eltern mit je 700 Franken. Die Busse beschäftigte anschliessend das kantonale Appellationsgericht, das schweizerische Bundesgericht und gar den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).(2)

Grundrecht versus Schulobligatorium

Steht dem Schwimmunterricht eine religiöse Vorschrift entgegen, so ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit tangiert (Artikel 15 Bundesverfassung). Diese umfasst die Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sowie Überzeugungen zu äussern oder zu praktizieren. Einschränkungen von Grundrechten sind möglich, bedürfen jedoch einer gesetzlichen Grundlage und müssen durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt und verhältnismässig sein (Artikel 36 Bundesverfassung).

Der Sportunterricht an der Volksschule ist obligatorisch (Artikel 12 Sportförderungsgesetz) – eine gesetzliche Grundlage für die Grundrechtseinschränkung ist damit gegeben.

Entscheidend ist daher, ob auch ein überwiegendes öffentliches Interesse am obligatorischen Schwimmunterricht besteht und die Durchsetzung der Verpflichtung verhältnismässig ist.

Voraussetzungen wurden strenger

Ursprünglich liess das Bundesgericht Dispense vom Schwimmunterricht aufgrund der Glaubens- und Gewissensfreiheit zu. Im Jahre 2008 änderte es seine Rechtsprechung und wies darauf hin, dass dem Interesse an der Integration mehr Gewicht beizumessen sei. Auch aus Sicherheitsgründen sowie aufgrund der Chancengleichheit bestehe ein erhebliches öffentliches Interesse am Schwimmunterricht. Gleich entschied das Bundesgericht im Jahre 2012 bei den Eltern aus dem Kanton Basel-Stadt. (3) Eine gegen das Urteil erhobene Beschwerde wurde im Jahr 2017 vom EGMR abgewiesen. Der Schulunterricht spiele eine fundamentale Rolle bei der Integration und Entwicklung der Kinder. Dispense seien nur unter strengen Voraussetzungen zu erteilen.

Die Glaubens- und Gewissensfreiheit steht somit dem obligatorischen Schwimmunterricht nicht entgegen. Die Verhältnismässigkeit des Einzelfalls bleibt jedoch entscheidend. Dies drückt ein ehemaliger Erziehungsdirektor gegenüber dem Regionaljournal Bern von SRF 2016 treffend folgendermassen aus: «Ob es indes in jedem Fall Sinn macht, den verpflichtenden Charakter der Schulfächer durchzusetzen, ist eine andere Frage». (4)

 

(1) BILDUNG SCHWEIZ, 9/2022, S. 37; BGer 2C_133/2014; Entscheid VGer SG vom 23. Juli 2015, Geschäfts-Nr.: B 2015/91.
(2) Urteil EGMR vom 10. Januar 2017, Geschäfts-Nr.: 29086/12.
(3) BGE 135 I 79; BGer 2C_666/2011
(4) Regionaljournal Bern vom 11. Januar 2016, abrufbar: «https://www.srf.ch/news/regional/bern-freiburg-wallis/berner-erziehungsdirektor-unterricht-ist-etwas-verbindliches», besucht am 1. Februar 2023.

 

Die Autoren

Michael Merker und Stefan Meyer sind Rechtsanwälte der Kanzlei Baur Hürlimann in Zürich und Baden. Ihre Tätigkeitsschwerpunkte liegen im öffentlichen Recht, insbe- sondere im Bildungsrecht, öffentlichen Personalrecht und Verwaltungsrecht.

Stefan Meyer

Der Rechtsanwalt Stefan Meyer arbeitet bei der Baur Hürlimann AG und schreibt neu zusammen mit Rechtsanwalt Michael Merker in der Rubrik Schulrecht von BILDUNG SCHWEIZ. Stefan Meyer berät und vertritt Mandanten in öffentlich-rechtlichen Belangen und befasst sich schwerpunktmässig mit öffentlichem Personalrecht, Bildungsrecht, allgemeinem Verwaltungsrecht sowie Bau- und Immobilienrecht. Vor seiner Tätigkeit bei der Baur Hürlimann AG absolvierte Stefan Meyer das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Zürich sowie Rechtspraktika am Bezirksgericht Kulm und bei der Baur Hürlimann AG. Anschliessend erlangte er das Anwaltspatent des Kantons Aargau und kehrte zur Baur Hürlimann AG zurück.

Datum

01.03.2023

Autor
Stefan Meyer, Michael Merker

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