Standpunkt-Kolumne

Standardisierte Prüfungen sind der falsche Ansatz

Wirtschaftsverbände fordern aussagekräftigere Schulzeugnisse und haben damit eine Diskussion über Noten entfacht. Schule habe zwar einen Beurteilungsauftrag, dürfe deswegen aber nicht die Förderung vernachlässigen, schreibt Daniel Gebauer, Mitglied der Geschäftsleitung LCH.

Daniel Gebauer ist Mitglied der Geschäftsleitung LCH. Foto: LCH/Philipp Baer

In einem erst kürzlich veröffentlichten Bericht kritisierte Economiesuisse, dass die Schulzeugnisse schwer zu interpretieren und wenig aussagekräftig seien. Die scheinbare Vergleichbarkeit von Schulnoten und die unterschiedlichen Umsetzungen der Kantone in der Beurteilungspraxis zwinge die Betriebe bei der Selektion ihrer Lernenden immer häufiger zu firmen- oder brancheneigenen Assessments.

Die Schweiz hält in einer kleinräumigen Bildungslandschaft noch immer mehrere unterschiedliche Bildungssysteme aufrecht. Der Ruf nach aussagekräftigen Zeugnissen und einer einfachen Lesbarkeit ist deshalb durchaus nachvollziehbar.

Man hat es in der Tat versäumt, mit der Einführung des neuen Lehrplans auch gleich die dazugehörige Beurteilungspraxis neu zu denken und sie auf nationaler Ebene in eine einheitliche Richtung zu lenken. Der Anspruch auf Einheitlichkeit darf aber nicht dazu führen, standardisierte Prüfungen einzurichten. Das wäre der falsche Ansatz.

Alle gleichaltrigen Schülerinnen und Schüler gleichzeitig mit der gleichen Prüfung mit gleichem Inhalt zu prüfen, würde nur dann Sinn ergeben, wenn alle das gleiche Bildungsziel hätten und gleiche Voraussetzungen mitbringen würden. Standardisierte Prüfungen werden der Vielfalt der Schule und der Individualität der Lernenden nicht gerecht werden.

Prüfungen stellen eine Momentaufnahme dar und sind deshalb nur mässig aussagekräftig. Formative und prognostische Beurteilungen werden gar nicht erst berücksichtigt. Diese setzen auf Potenzial und Entwicklung der Lernenden und wären gerade darum sinnvoll und relevant.

Ist die Schule zu sehr mit Beurteilen und Selektionieren beschäftigt, wird die eigentliche Förderung vernachlässigt.

 

Es ist unbestritten, dass die Schule einen Beurteilungs- und Selektionsauftrag hat. In erster Linie hat sie aber den Auftrag, alle Kinder und Jugendlichen entsprechend ihren Voraussetzungen zu fördern. Ist die Schule zu sehr mit Beurteilen und Selektionieren beschäftigt, wird die eigentliche Förderung vernachlässigt.

Die Schule ist oft zu sehr darauf bedacht, die Leistungen der Lernenden möglichst exakt und mathematisch korrekt in einem Notendurchschnitt abzubilden. Beurteilung ist jedoch keine exakte Wissenschaft — auch nicht mit Noten. Das hat unter anderen auch Economiesuisse erkannt und die Diskussion erneut lanciert.

Es ist nun eine Aufgabe aller Akteure, die Beurteilung zu revidieren.

 

Es ist nun Aufgabe aller Akteure im Bund und in den Kantonen, die Beurteilung zu revidieren. Dabei muss auch auf die Frage nach der frühen oder späten Selektion eingegangen werden. Klar ist: Beurteilung ist und bleibt ein Spannungsfeld und ein Dilemma. Solange wir in der Volksschule selektionieren, lösen wir dieses nicht auf. Denn Selektion verlangt (scheinbar genaue) Mess- und Vergleichbarkeit.

 

Der «Standpunkt» ist eine monatliche Kolumne der Geschäftsleitungsmitglieder des LCH. Die Aussagen geben die persönliche Meinung der einzelnen Autorinnen und Autoren wieder.

Datum

13.03.2024

Autor
Daniel Gebauer

Publikation
Standpunkte