«Viele haben zunehmend Mühe, fremde Meinungen zu tolerieren»
Der Karikaturist Marco Ratschiller erklärt im Interview den grossen Vorteil von Zeichnungen im politischen Diskurs und wieso er reine Provokation für eine Sackgasse hält. Mit Schülerinnen und Schülern lässt sich das aktuell an der Ausstellung «Gezeichnet» im Museum für Kommunikation in Bern erleben und diskutieren.
Herr Ratschiller, darf Satire alles?
Ja, Satire darf alles – sie muss aber nicht. Wer Satire betreibt, verfolgt damit immer ein bestimmtes Ziel. Um dieses Ziel zu erreichen, muss man sein Publikum kennen und wissen, welche Stilmittel ankommen und wie weit man gehen kann.
Der Karikaturist muss auf sein Publikum Rücksicht nehmen?
Es ist wie im Restaurant: Ein Koch muss wissen, was seinen Gästen schmeckt. Die Geschmäcker sind verschieden – auch in der Satire. So ist es möglich, dass ein Magazin wie «Charlie Hebdo» provokative Karikaturen publiziert und trotzdem eine grosse Leserschaft findet. Mit der Digitalisierung wird es aber zunehmend schwieriger, sein Publikum zu kennen.
Mit welchen Folgen?
Berühmtestes Beispiel sind wohl die Mohammed-Karikaturen. Eigentlich für ein dänisches Publikum gedacht, kursierten die Zeichnungen bald in muslimischen Ländern. Der Karikaturist erreichte plötzlich ein Publikum, das er ursprünglich gar nicht im Kopf hatte. Heute ist diese Gefahr noch grösser, im Internet verbreiten sich Karikaturen innert kürzester Zeit global. Trotzdem: Ein Karikaturist darf sich davon nicht in seiner Arbeit einschränken lassen.
Welche Rolle spielen Karikaturen im politischen Diskurs?
Eine Karikatur kann einen wesentlichen Teil zur Meinungsbildung beitragen. Hinter jeder Karikatur steckt eine journalistische Leistung. Sie zeigt Dinge auf und deutet diese. Gleichzeitig kann sie unterhalten: In einem politischen Kommentar ist Ironie oft nicht angebracht, für eine Karikatur hingegen zentral. Zudem hat die Zeichnung einen wichtigen Vorteil.
Und der wäre?
Eine Karikatur kann ein Thema oder eine Haltung innert Sekundenbruchteilen vermitteln. Wir nehmen den Inhalt eines Bildes schneller wahr, als wir einen Text lesen. In einer Zeit, in der alles immer schneller und die Aufmerksamkeitsspanne kürzer wird, ist das ein grosser Vorteil. Trotzdem wird eine Karikatur oft noch als Zeichnen verkannt. Dabei ist es journalistische Arbeit.
Karikaturen sind meist provokativ. Gilt: Je schärfer die Reaktion, desto besser die Karikatur?
Nein. Wie provokativ eine Karikatur sein kann, ist letztlich davon abhängig, wie offen der Diskurs innerhalb einer Gesellschaft ist. Bei einem emanzipierten Publikum kann man sehr weit gehen. Monty Python ist der beste Beweis dafür.
Und was wäre das Gegenbeispiel?
Die Satirezeitschrift «Nebelspalter» während des Zweiten Weltkriegs: Die Satire darin war äusserst subtil, ohne Kontextwissen blieb sie unverständlich. Dabei ging es auch darum, die Karikaturen an der Zensur vorbeizubekommen.
Welche Form der Satire gefällt Ihnen besser?
Provokation ist eine Einbahnstrasse. Heute sind wir an einem Punkt, wo es kaum mehr Tabus gibt, die man brechen könnte. Persönlich finde ich es deshalb prickelnder, wenn die Provokation wohldosiert und subtil daherkommt.
Was macht eine gute Karikatur aus?
Eine gute Karikatur sollte unterhalten und gleichzeitig zum Nachdenken anregen. Am besten so, dass das Lachen im Hals stecken bleibt. Aber wie anfangs erwähnt: Die Geschmäcker sind verschieden. Andere mögen es provokativ und wieder andere bevorzugen einen puristischen Stil mit möglichst wenigen Linien. Letztlich macht es die Mischung aus. Die Ausstellung «Gezeichnet» zeigt diese Diversität in der Satire sehr schön auf.
Erhalten Karikaturen das nötige Mass an Aufmerksamkeit?
Die Pressekonzentration in der Deutschschweiz setzt der Szene zu. Es gibt immer weniger Zeitungen, die sich einen Karikaturisten oder eine Karikaturistin leisten. Ennet des Röstigrabens ist die Situation anders, dort haben selbst kleinere Titel ihren Hauskarikaturisten. In der frankofonen Welt hat die Karikatur einen höheren Stellenwert.
Es gibt Zeitungen, die aus Angst vor den Reaktionen keine politischen Karikaturen mehr publizieren. Verträgt es keine politische Unkorrektheit mehr?
Es ist tatsächlich schwieriger geworden – insbesondere, wenn der Rückhalt in der Chefredaktion fehlt. Ich kenne Beispiele, wo langjährige Mitarbeitende nach Kritik entlassen wurden. Es ist aber nicht so, dass die Karikaturen zensiert würden: Wo die Kultur gepflegt wird, erhalten die Zeichnerinnen und Zeichner nach wie vor viele Freiheiten.
Warum sollen wir über Dinge lachen, die nicht komisch sind? Zum Beispiel den Terrorismus oder die Pandemie?
Weil es helfen kann, über Themen zu lachen, die einem belasten. Das ist aber von Person zu Person unterschiedlich – insbesondere der Zeitpunkt: Dieselbe Pointe kann zwei Tage nach dem Unglück noch total deplatziert sein, zwei Monate später aber funktionieren. Auch deshalb ist es so wichtig, dass der Karikaturist sein Publikum kennt.
Warum ertragen wir Ironie und Witz oft schlecht, wenn sie eine andere Sichtweise als die eigene wiedergibt?
Ich stelle tatsächlich fest, dass viele zunehmend Mühe haben, eine Meinung zu akzeptieren oder zumindest zu tolerieren, die nicht ihre eigene ist. Dabei wäre das doch so wichtig. In der Pandemie hat dieses Unverständnis für die Gegenseite weiter zugenommen. Ein Rezept, wie wir diesem Problem beikommen können, habe ich aber nicht.
Gibt es Themen, die Sie bewusst meiden?
Über Religionsthemen mache ich mich nicht mehr lustig. Witze über Hostien und Glaubensfragen gibt es schon zur Genüge. Auch schlüpfrige oder vulgäre Themen meide ich. Zwar liessen sich da einfach ein paar Lacher abholen, die Wirkung ist aber gleich Null.
Und die Pandemie: Ist sie Fluch oder Segen für einen Karikaturisten?
Corona dominiert alles – wie bereits letztes Jahr. Als wir 2020 die Einsendungen für die Gezeichnet-Ausstellung erhielten, fürchteten wir zunächst, dass das Ganze monoton werden könnte. Immerhin ist die Ausstellung auch ein Jahresrückblick. Ich staunte aber, wie unterschiedlich die Karikaturistinnen und Karikaturisten mit dem Thema umgegangen sind. Die Ausstellung war alles andere als monoton.
Wieso sollten Lehrpersonen mit ihren Schulklassen «Gezeichnet» besuchen?
Zunächst mal ist jeder Ausflug ein Ereignis. Und dann kann ein Ausflug zu «Gezeichnet» je nach Alter auch aus didaktischer Sicht sehr interessant sein: Die Kinder lernen so, was hinter einer Karikatur steckt. Was ist verletzend, was nicht? Und wieso nicht? Diese Kompetenz ist wichtig, im Umgang mit Medien wie auch im Alltag.
Zur Person
Marco Ratschiller (47) war von 2005 bis 2020 Chefredaktor der Schweizer Satirezeitschrift «Nebelspalter». Seine ersten Karikaturen publizierte er noch als Student während eines Praktikums als Journalist bei den «Freiburger Nachrichten». Für diese zeichnet er unter dem Pseudonym «Karma» bis heute regelmässig. 2008 war Ratschiller Mitbegründer der Ausstellung «Gezeichnet». 2016 wurde seine Karikatur «Innenleben eines Wutbürgers» zur Schweizer Karikatur des Jahres gewählt.
Datum
Autor
Mathias Streit