Standpunkte

Von Machos und Lohnungleichheit und anderen Empörungsgeschichten

Vor rund einem Monat erklärte uns Constantin Seibt, ein durchwegs brillant schreibender Journalist des Tages-Anzeigers, wie der heutige Journalismus funktioniert. Dieser kämpfe heute nämlich gegen Personalabbau und andere einschneidende Sparmassnahmen, laufe immer schneller, weil die zeitlichen und personellen Ressourcen für eine seriöse Recherche fehlten. Und: die Resonanz sei messbar geworden, in Form von Klicks und Onlinekommentaren.

So genannte Empörungsgeschichten, also das Berichten über vermeintliches Fehlverhalten, werden deshalb laufend bewusst konstruiert und lanciert. Die ideale Geschichte muss verständlich sein, also undifferenziert, sorgt für maximale Aufregung und Reaktion und macht beliebig viele Fortsetzungen möglich. Deshalb ist die journalistische Motivation hinter solchen Geschichten keine emotionale, sondern eine rein ökonomische.

In dieses Genre gehörte letztes Jahr mit insgesamt 1400 publizierten Artikeln das Tun eines Badener Politikers. (Man kann über sein Handeln denken, was man will. Aber hätte es letztes Jahr nicht genügend andere Themen gegeben, die unsere Aufmerksamkeit in ebenso starkem Masse verdient gehabt hätten?). Zu solchen Empörungsgeschichten gehört auch der Medienhype zum Thema «Balkon Machos». Eine Frau, die Selbstverteidigungskurse an Schulen erteilt, wird in einer Tageszeitung als Quelle herangezogen. Haarsträubend sei die Sprache der Jungen heutzutage. Auch eine Oberstufenlehrerin wird zitiert. Sie würde seit einiger Zeit das Erstarken eine Machokultur beobachten. Sie gibt der Zeitung auch gleich die passende Erklärung ab, nämlich, dass es zwar nicht gerne gehört werde, es sich aber um ein Migrationsproblem handeln würde.

Während man zuvor noch von Nachwuchs-Machos sprach, war der Begriff «Balkan-Machos» nun sehr schnell in aller Munde. Wie bei den Begriffen «Scheininvalide» und «Sozialschmarotzerinnen» bediente man sich den gängigen Klischees und malte husch und skrupellos ein neues Feindbild: junge, männliche Erwachsene aus dem Balkan und aus bildungsfernen Schichten stammend, die sich unflätig den jungen Frauen gegenüber benehmen, sie beschimpfen und bedrängen. Aha, diese zwei Quellen reichen also aus, um eine halbe Million Menschen, die in der Schweiz wohnen und arbeiten zu verunglimpfen. Sie wegen ihrer offenbaren Bildungsferne und ihrer patriarchalischen Strukturen pauschal für Vorkommnisse auf dem Pausenpatz verantwortlich zu machen.

Diese Empörungsgeschichte war lanciert, da sie in allen Teilen dem Mechanismus entsprach. Das Onlineportal von «20 Minuten» generierte innert Kürze 420 Kommentare. Ich habe sie alle gelesen, restlos. Und ich kann hier eines festhalten: Ich war sprachlos ob der vorherrschenden Aggressivität und der verbalen Rundumschläge. Das Vokabular war aus meiner Sicht weit aus haarsträubender als jenes der Jugendlichen. Zumal bei Erwachsenen im Gegensatz zu pubertierenden Jugendlichen der Bonus für den noch nicht ausgereiften Frontalkortex wegfällt und deshalb die Sprache und Ausdrucksweise strenger beurteilt werden muss.

Als die NZZ ein paar Tage später männliche Studierende mit albanischen Wurzeln porträtierte, blieben die Kommentare in grosser Zahl aus. Dies zeigt doch deutlich: Diskriminierungen sind hoch komplexe gesellschaftliche Phänomene. Oder wie lässt es sich sonst erklären, dass am 7. März 2015, über 30 Jahre nachdem die Gleichstellung von Mann und Frau in der Bundesverfassung verankert worden ist, rund 12'000 Frauen und Männer auf dem Bundesplatz für die Lohngleichheit demonstrierten? Dass Frauen im Durchschnitt für gleiche Arbeit noch immer 20% weniger Lohn erhalten als Männer?

Verstehen Sie mich nicht falsch. Es geht nicht an, dass Mädchen in der Schule gedemütigt und schikaniert werden. Ebenso wenig sollten Dicke, Homosexuelle, Streber oder Andersdenkende ausgegrenzt und bedroht werden. Natürlich verschärft sich das Problem von sexistisch motivierten Übergriffen, wenn ein Hintergrund mit patriarchalen Strukturen vorhanden ist oder auf einer Hip-Hop-Kultur basiert, die die gleichen diskriminierenden Tendenzen verfolgt.

Elisabeth Abassi, Präsidentin des alv, sagte gegenüber der Aargauer Zeitung: «Fehlerhaftes Verhalten der Schüler schleicht sich oft ein, wenn man nicht den Anfängen wehrt.» Genau! Und das tun Lehrerinnen und Lehrer jeden Tag und nicht erst auf der Oberstufe. Sie schreiten ein, wenn Kinder beschimpft und lächerlich gemacht werden. Sie vermitteln ihnen die Werte von Gleichwertigkeit und vorurteilslosem, differenzierendem Beurteilen. Dieses Setzen von Grenzen sollten übrigens alle tun, überall. Nicht nur in der Schule. Auch auf der Strasse oder in den Kommentarspalten der Onlineportale oder in der Politik. Denn, wie genau war jetzt das mit der Lohngleichheit in der Schweiz?

Datum

02.06.2015

Autor
Marion Heidelberger

Publikation
Standpunkte