STANDPUNKT-KOLUMNE
Was uns der «Pisa-Test für Erwachsene» sagt
Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn ein gewisser Teil der Erwachsenen eine Lese-, Rechen- oder Problemlösungsschwäche aufweist? Dagmar Rösler, Präsidentin des LCH, schreibt in ihrer Kolumne, warum es in der Schweiz mehr Bildungsgerechtigkeit braucht.
Wie gut können Erwachsene lesen, rechnen oder Problem lösen im Alltag und im Beruf? Dieser Frage nahm sich eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) an. Sie hat mit der Piaac-Studie die Grundkompetenzen in den erwähnten Bereichen getestet. In der Schweiz haben 6648 Personen zwischen 16 und 65 Jahren daran teilgenommen. Die Ergebnisse wurden kürzlich veröffentlicht. Obwohl die Studie 2011 in fast 40 Ländern erstmals durchgeführt wurde, nahm die Schweiz erstmals 2021 teil. Zahlen aus anderen Jahren aus der Schweiz fehlen bisher.
So viel sei gesagt: In diesem «Pisa-Test für Erwachsene» liegt die Schweiz im Vergleich zu allen anderen teilnehmenden Ländern klar über dem OECD-Schnitt. Sie steht aber schlechter da als beispielsweise Finnland, Japan und Schweden. Ausserdem lassen sich aus den Ergebnissen Erkenntnisse ableiten, die uns nachdenklich stimmen sollten.
Welche Auswirkungen hat es auf unsere Gesellschaft und das Leben in der Schweiz, wenn relativ viele Menschen nicht gut Lesen, Rechnen und Problemlösen können?
So zeigt sich beispielsweise bei der Lesekompetenz, dass 22 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer Schwierigkeiten haben. Auch beim Rechnen weisen 19 Prozent niedrige Kompetenzen auf, wobei hier die Frauen etwas schlechter abschneiden als die Männer. Dafür schneiden Frauen bei der Lesekompetenz besser ab.
Welche Auswirkungen hat es auf unsere Gesellschaft und das Leben in der Schweiz, wenn relativ viele Menschen nicht gut lesen, rechnen und Probleme lösen können? Bestimmt ist es ist ein Warnzeichen an uns alle. Man muss sich fragen, wie in Zukunft Entscheide gefällt, wie Abstimmungen vollzogen, wie Alltagsprobleme gelöst werden.
In einer Welt, die an Komplexität rasant zunimmt und Populismus an Zustimmung gewinnt, ist es unerlässlich, eigenständig, sicher und kompetent Probleme in Alltag und Beruf lösen zu können. Wir alle benötigen also ein gewisses Niveau in den drei abgefragten Kompetenzen.
In einer modernen Gesellschaft ist es wichtig, dass niemand zurückgelassen wird.
Welchen Schluss ziehe ich daraus? Unsere Bildungsgerechtigkeit muss sich verbessern. Denn die Ergebnisse zeigen auch auf: Wer aus einem Elternhaus mit höherem Bildungsniveau stammt, weist bessere Kompetenzen auf. Wir müssen dem Umstand Rechnung tragen, dass offenbar die Herkunft zu stark über die Zukunft eines Kindes entscheidet. In einer modernen Gesellschaft ist es wichtig, dass niemand zurückgelassen wird.
Wie lässt sich dies bewerkstelligen? Es braucht sicher zahlreiche Massnahmen. Ich bin überzeugt, dass beispielsweise eine Ausbildungspflicht bis zum 18. Lebensjahr und die Einführung einer Ausbildungsgarantie bis zum 25. Lebensjahr helfen könnten. Diese Anhebung der Sek-II-Ausbildungsquote würde die Grundkompetenzen bei Erwachsenen stärken.
Der «Standpunkt» ist eine monatliche Kolumne der Geschäftsleitungsmitglieder des LCH. Die Aussagen geben die persönliche Meinung der einzelnen Autorinnen und Autoren wieder.
Datum
Autor
Dagmar Rösler
Publikation
Standpunkte