Standpunkte

Berufsauftrag oder Freiwilligkeit?

Schweizer Schulen bieten zunehmend Tagesstrukturen an. Damit entsprechen sie dem Bedürfnis berufstätiger Eltern. In der Umsetzung sind jedoch noch einige Fragen offen – vor allem in der Verteilung der Betreuungsaufgaben, schreibt Dagmar Rösler, Präsidentin LCH.

Dagmar Rösler, Präsidentin LCH. Foto: LCH/Philipp Baer

Städte wie Zürich, Basel und Baden haben sie flächendeckend eingeführt, der LCH verfasste 2021 ein Positionspapier zur Thematik und die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) schrieb Empfehlungen dazu. In einer kürzlich durchgeführten Studie der Stiftung Mercator wünschen sich knapp Dreiviertel der Befragten eine flächendeckende Einführung im ganzen Land. Die aufmerksame Leserschaft hat es bereits erfasst: Die Rede ist von Tagesstrukturen an Schweizer Schulen.

Mittagstische und Betreuung vor und nach dem regulären Unterricht werden für Gemeinden zunehmend zu einem wesentlichen Standortfaktor. Denn – wie auch die EDK in ihren Empfehlungen schreibt – fördert familien- und schulergänzende Kinderbetreuung die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit. Dies trägt zur Existenzsicherung von Familien, zur Chancen- und Bildungsgerechtigkeit sowie zur Gleichstellung von Mann und Frau bei. So weit so gut.
Bislang noch wenig diskutiert ist jedoch die Frage, was eine Einführung von Tagesschulen vor Ort für das Personal an den Schulen bedeutet.

Wer öffnet um 7 Uhr morgens die Pforten, wer übernimmt die Betreuung des Mittagstisches und wer leitet das Programm für die Schülerinnen und Schüler nach Schulschluss an?

Kann und soll hier klar zwischen Bildungs- und Betreuungspersonal unterschieden werden oder soll der Berufsauftrag der Lehrerinnen und Lehrer und therapeutischem Personal mit zusätzlichen Betreuungskompetenzen erweitert werden?

«Selbstverständlich brauchen familien- und schulergänzende Tagesstrukturen ein pädagogisches Gesamtkonzept.»

 

Fakt ist, dass sich der LCH seit Jahren für qualitativ hochstehende schulergänzende Betreuung im Zeichen der Chancengerechtigkeit ausspricht. Der LCH ist ebenso wie der Verband Kinderbetreuung Schweiz kibesuisse der Meinung, dass eine gemeinsame pädagogische Grundhaltung zwischen Unterricht und Betreuung das Wohlbefinden und die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder unterstützt.

Dennoch werden auch in Zukunft Lehrerinnen und Lehrer für qualitativ hochstehenden Unterricht und Betreuungspersonal für ebensolche Betreuungssequenzen zuständig sein. Selbstverständlich brauchen auch familien- und schulergänzende Tagesstrukturen ein pädagogisches Gesamtkonzept mit dem Ziel einer koordinierten Zusammenarbeit von Schule und Tagesstrukturen mit der gemeinsamen Aufgabe von Bildung und Erziehung.

«Eine Verpflichtung von Lehrpersonen zur nachschulischen Betreuung käme einer Erweiterung des Berufsauftrags gleich.»

 

Sollten Lehrpersonen und therapeutisches Personal auch in Betreuungsgefässen eingesetzt werden, so muss dies meiner Ansicht nach auf freiwilliger Basis möglich sein. Denn es kann die Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern stärken. Eine Verpflichtung von Lehrpersonen zur nachschulischen Betreuung käme jedoch einer Erweiterung des ohnehin schon strapazierten Berufsauftrags gleich und wäre kontraproduktiv.

Der «Standpunkt» ist eine monatliche Kolumne der Geschäftsleitungsmitglieder des LCH. Die Aussagen geben die persönliche Meinung der einzelnen Autorinnen und Autoren wieder.

Datum

12.09.2023

Autor
Dagmar Rösler

Publikation
Standpunkte