Standpunkte

Die Vorstellung von Frauen- und Männerberufen ist hinderlich

Sind in einem Beruf mehrheitlich Frauen vertreten, wird er schnell als sogenannter Frauenberuf bezeichnet. Das kann Männer abschrecken, zum Beispiel auf tieferen Schulstufen zu unterrichten. Ein neues Image für solche Berufe würde die Gleichbehandlung der Geschlechter fördern. 

Dagmar Rösler, Präsidentin LCH. Foto: LCH/Philipp Baer

Kürzlich habe ich in einer namhaften Tageszeitung folgende Schlagzeile gelesen: «Männer gehen, wenn zu viele Frauen kommen». Hoppla, hab ich mir gedacht und den kurzen Text dazu gelesen.

Männer gehen, wenn zu viele Frauen kommen

Hinter dem knackigen Titel und dem unscheinbar platzierten Bericht versteckt sich eine Studie der Uni Zürich, die im Fachblatt «Social Networks» publiziert wurde. In dieser Studie wurden zwei hypothetische Berufe miteinander verglichen. Der eine wies einen Frauenanteil von 25 Prozent, der andere einen von 75 Prozent auf.

Die Auswertung ergab, dass Männer mit doppelter Wahrscheinlichkeit den Beruf verlassen, wenn der Frauenanteil zunimmt. Gemäss Studienautor Per Block, Professor für Soziologie an der Universität Zürich, scheint das darauf hinzudeuten, dass die Existenz von typischen Männer- oder Frauenberufen nicht die Folge von beruflichen Merkmalen ist, sondern deren Ursache. Mit anderen Worten: Die Beschreibung eines Berufes wird also dem vorherrschenden Geschlecht angepasst. Um das Beispiel aus dem Zeitungsbericht aufzugreifen: Der Pflegeberuf wird eher mit stereotyp weiblichen Attributen wie sozial, empathisch beschrieben. Wäre der Pflegeberuf jedoch vorwiegend durch männliche Personen besetzt, würden die An- und Herausforderungen vielleicht eher ‹durchsetzungsstark und körperlich anstrengend› lauten.

Mehr männliche Lehrpersonen auf tieferen Schulstufen

Es war unumgänglich, dass ich beim Lesen dieses Artikels die Parallele zum Lehrberuf gezogen habe. Die Situation in der Schule kann folgendermassen auf den Punkt gebracht werden: Je kleiner die Kinder, desto höher ist der Frauenanteil und desto niedriger übrigens auch der entsprechende Lohn. Letzteres ist aber ein Thema für ein anderes Mal.

Ich schliesse meine Gedanken zu oben genannter Studie und der Verbindung zur Situation der Geschlechterverteilung in der Schule mit folgender Überlegung: Wir könnten den Lehrberuf in Zukunft konsequent mit Beschreibungen wie «souveränes Auftreten, analytisches Denkvermögen in komplexen Zusammenhängen, Eigeninitiative, Begeisterungs- und Konfliktfähigkeit, Kommunikationskompetenz, Vorbild sein, Bereitschaft sich weiterzuentwickeln, hohes Empathievermögen und grosses Menschenverständnis» etikettieren. Diese Eigenschaften zum Beispiel sind von Beschreibungen von Führungskräften abgekupfert.

So könnten wir mit grosser Wahrscheinlichkeit dazu beitragen, dass sich auch wieder mehr Männer für die «unteren» Schulstufen interessieren und ihre berufliche Heimat in der Schule finden. Und um gleich das nächste Missverständnis aus dem Weg zu räumen: Männer sind nicht bessere Lehrer, aber ein ausgeglichenerer Frauen- und Männeranteil würde das gesellschaftliche Ansehen unseres Berufs steigern. Dagegen spricht ja wohl nichts, oder?

Der «Standpunkt» ist eine monatliche Kolumne der Geschäftsleitungsmitglieder des LCH. Die Aussagen geben die persönliche Meinung der einzelnen Autorinnen und Autoren wieder.

Datum

31.01.2023

Autor
Dagmar Rösler

Publikation
Standpunkte