Standpunkte

Lehrpersonen brauchen Privatsphäre

Feierabend ist relativ – besonderes für Lehrerinnen und Lehrer. Die meisten sind ständig auf mehreren Kanälen erreichbar oder begegnen Eltern von Schülerinnen und Schülern in der Freizeit. Wie kann man sich da überhaupt abgrenzen?

Daniel Gebauer ist Mitglied der Geschäftsleitung LCH. Foto: LCH/Philipp Baer

Kennen Sie die folgende Situation? Sie stehen an der Kasse und legen Ihre Einkäufe auf das Rollband. Hinter ihnen schliesst eine Frau auf, die Sie anspricht und sich als Mutter eines Schülers herausstellt. Während Sie die Einkäufe bezahlen und in die Einkaufstauschen einräumen, folgt bereits die Frage, welche Lernziele in der Lernkontrolle von nächster Woche geprüft werden. Sie verweisen darauf, dass die Klasse genau instruiert wurde und dass zu den Lernzielen auch die dazugehörigen Unterlagen aufgeführt sind.

Die Mutter gibt sich nun vorab zufrieden, verfolgt Sie aber weiter auf Schritt und Tritt und möchte nun auch noch erfahren, ob sich das erst kürzlich verordnete Ritalin günstig auf die Konzentration ihres Sohnes auswirkt. Höflich aber bestimmt bieten Sie der Mutter an, sich doch für einen Gesprächstermin telefonisch zu melden. Am gleichen Abend klingelt das Telefon um 20 Uhr. Wer könnte das wohl sein? Ihnen dämmert es und als Sie den Anruf annehmen, meldet sich die Mutter des besagten Schülers. Eigentlich wollen Sie sogleich darauf hinweisen, dass Anrufe zur Schule um diese Zeit nicht mehr erwünscht sind. Sie möchten aber nicht unhöflich sein und vereinbaren mit der Frau einen Termin für ein Standortgespräch.

Kurz vor 22 Uhr erscheint eine Nachricht auf dem Handy. Der vereinbarte Gesprächstermin ist nun doch nicht möglich, da die Frau einen Termin beim Notar übersehen hatte.

Eine Eigenheit des Lehrerufs

Obwohl es sich um eine fiktive Schilderung handelt, gibt es wohl kaum eine Lehrperson, die nicht auch schon eine ähnliche Situation erlebt hat. Ohne böse Absicht dringen die Erziehungsberechtigten in die Privatsphäre der Lehrpersonen ein. Eine Trennung zwischen Privat- und Berufsleben wird dadurch erheblich erschwert. Für das Wohlbefinden und die Gesundheit der Lehrpersonen kann dies ernstzunehmende Folgen haben.

Welche Berufsgattung kann von sich behaupten, dass sie für berufliche Korrespondenz mit ihren privaten Kontaktangaben erreichbar ist? Es scheint dies mit wenigen Ausnahmen eine Eigenheit unseres Berufstandes zu sein. Diesbezüglich ist es auch gerechtfertigt, wenn Lehrpersonen bei ihrem Arbeitgeber Massnahmen zur Einhaltung und Förderung ihrer Privatsphäre einfordern. Eine berufliche Mailadresse und Handynummer stellen dazu eine Grundvoraussetzung dar. Die Eltern müssen zudem genau darüber informiert werden, zu welchen Zeiten eine Lehrperson erreichbar ist und wann nicht.


Der «Standpunkt» ist eine monatliche Kolumne der Geschäftsleitungsmitglieder des LCH. Die Aussagen geben die persönliche Meinung der einzelnen Autorinnen und Autoren wieder.

Datum

29.11.2022

Autor
Daniel Gebauer

Publikation
Standpunkte