Interview mit Margrit Stamm

«Es gibt Dinge, die eignen sich nicht für die Digitalisierung»

Schulen fokussieren zu stark auf messbares Wissen und Noten, findet die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm. Im Gespräch sagt sie, welche Fähigkeiten stattdessen hilfreich wären und warum der Unterricht nicht komplett digitalisiert sein sollte.

Margrit Stamm, Professorin für Erziehungswissenschaft und Gründerin des Universitären Zentrums für frühkindliche Bildung Freiburg. Fotos: Gion Pfander

BILDUNG SCHWEIZ: Sie sind ohne soziale Medien aufgewachsen. Dennoch sind Sie online sehr präsent. Weshalb?

MARGRIT STAMM: Ich wurde bei Referaten oftmals darauf angesprochen, dass meine Gedanken ein breiteres Publikum erreichen sollen. Ich habe schon in den 1990er-Jahren für Zeitungen geschrieben. Dann begann ich zusätzlich zu bloggen und Themendossiers auf meiner Website kostenlos bereitzustellen.

Sie nutzen auch Social Media sehr aktiv.

Ja, ich twittere schon länger. Ich erfahre dort schneller von neuen Studien, als wenn ich erst auf Websites danach suchen muss. Es ist allerdings auch anspruchsvoll. Ich muss mir selbst Regeln auferlegen. Zum Beispiel zur Zeit, die ich online bin. Und ich habe gelernt, mich nicht auf jede Diskussion einzulassen.

Vor ein paar Jahren sprachen Sie noch vom Digitalisierungsmonster. Heute ist sogar das Lehrkochbuch «Tiptopf» interaktiv. Wie denken Sie als ehemalige Lehrerin darüber?

Man kann sich den Veränderungen nicht verschliessen. Sie sind die Zukunft. Wichtig ist, dass man sich dem Wandel stellt und dabei die kritischen Fragen beleuchtet. Schule soll trotzdem nicht komplett digitalisiert sein. Es gibt Dinge, die eignen sich nicht für die Digitalisierung. Die gesprochene Sprache bleibt zum Beispiel weiterhin wichtig. Die grosse Herausforderung liegt nun darin, die Digitalisierung mit der analogen Welt zu verbinden.

 

ZUR PERSON

Margrit Stamm ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaft und Gründerin des Universitären Zentrums für frühkindliche Bildung Freiburg (FR). Vor ihrem Studium besuchte sie das Lehrerseminar in Aarau und arbeitet einige Jahre als Primarlehrerin in den Kantonen Aargau und Zürich. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die frühkindliche Bildungsforschung, Talententwicklung und Bildungslaufbahnen vom Vorschulalter bis zum späten Erwachsenenalter sowie Berufsbildungsforschung und Migration. Margrit Stamm ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

Schadet die Digitalisierung der Beziehung zwischen den Lehrpersonen und den Lernenden?

Nicht unbedingt. Es wäre jedoch ein Irrtum zu meinen, dass die Digitalisierung grössere Klassen ermöglicht. Es reicht auch nicht, jedes Kind mit einem Tablet auszurüsten. Digitalisierung ist weitreichender. Wenn die Schülerinnen und Schüler digitaler arbeiten, braucht es sogar mehr Interaktion mit der Lehrperson.

Warum?

Die Arbeit mit digitalen Geräten erfordert mehr Selbstständigkeit. Kinder und Jugendliche müssen selbstständiges Arbeiten und kritisches Denken erst erlernen. Sie können technische Geräte zwar gut bedienen, aber zum Beispiel nicht unbedingt Werbung von Journalismus unterscheiden. Eine Rechercheaufgabe allein reicht da nicht. Es braucht die Unterstützung und Anleitung der Lehrperson dafür.

Wie kann man die Schülerinnen und Schüler dafür richtig abholen?

Die Digitalisierung ist in erster Linie eine technische Veränderung. Aber daraus ergeben sich pädagogische Fragen. Es braucht also eine neue Didaktik, die pädagogisch fundiert ist und nicht nur technisch. Darum müssen Lehrpersonen in der Aus- und Weiterbildung Werkzeuge erhalten, um Kindern und Jugendlichen einen verantwortungsvollen Umgang mit Technologie lehren zu können.

Ist das nicht Aufgabe der Eltern?

Das ist nicht in jeder Familie gegeben. In der Pandemie sah man, dass nicht alle daheim die nötige Unterstützung für den Fernunterricht hatten. Etwa zehn Prozent der Lernenden verloren in dieser Zeit den Anschluss.

«Jugendliche müssen lernen, auf ihr Gegenüber einzugehen.»

Die Pandemie zeigte uns also die Schwachstelle der digitalen Bildung?

Ja. Man sagte, diese Schülerinnen und Schüler seien leistungsschwächer. Es sind aber genau jene, denen die Schule lehren muss, wie man selbstständig arbeitet und auch dranbleibt.

Besonders die Wirtschaft fordert, dass Schule auf die digitale Arbeitswelt vorbereitet. Was braucht es dazu?

Was besonders fehlt, auch in der Berufsbildung, sind überfachliche Kompetenzen. Fähigkeiten wie Hartnäckigkeit, Durchsetzungsfähigkeit oder Frustrationstoleranz helfen, Probleme zu erkennen und Lösungen zu finden. Wichtig ist zudem, dass Jugendliche lernen, auf ihr Gegenüber einzugehen. Das brauchen sie dann spätestens im Kundengespräch oder wenn sie einen Pflegeberuf erlernen.

«Die Zunahme psychischer Probleme hängt nur teilweise mit dem Leistungsdruck in der Schule zusammen.»

Erlernen die Jugendlichen diese Fähigkeiten nicht zum Teil schon im Umgang miteinander?

Jugendliche tauschen sich heute mehrheitlich über digitale Kanäle aus. Es ist aber etwas anderes, wenn sie dann im Team arbeiten und sich auf andere einlassen müssen. Fachleute beobachten in der Ausbildung zudem, dass junge Menschen oft zu wenig selbstkritisch sind und bloss Forderungen stellen.

Widerspricht das nicht der These, dass Jugendliche unter hohem Leistungsdruck stehen und darum vermehrt unter psychischen Problemen leiden?

Die Zunahme psychischer Probleme ist tatsächlich markant. Das hängt aber nur teilweise mit dem Leistungsdruck in der Schule oder in der Ausbildung zusammen. Zeit- und Leistungsdruck sind auch im Privaten gestiegen. Eine neue Studie aus Deutschland zeigt, wie bestimmend das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung geworden ist. Dieses Verlangen nach Likes belastet die Jungen stark. Sie stehen unter dem Druck, schnell zu antworten und viel zu posten. Das ist die Kehrseite der Digitalisierung. Sie sollen auch diese Seite der Digitalisierung thematisieren. Lehrpersonen holen so die Schülerinnen und Schüler ab, wo sie Sorgen haben. Sie können mit der Klasse darüber sprechen, wie abhängig sie von digitalen Geräten und sozialen Netzwerken sind. Daraus entstehen gute Gespräche.

Sprengt das nicht den Rahmen des ohnehin schon vollen Stundenplans?

Das kann sein. Der Lehrplan 21 ist schon überladen. Das setzt auch Lehrerinnen und Lehrer unter Druck. Da ist die Schule als Ganzes gefragt, ihnen nicht immer neue Aufgaben aufzubürden. Darum braucht es in der Schule vermehrt gute Teamarbeit – nicht nur unter den Lehrpersonen, sondern auch mit der Schulsozialarbeit oder mit der Schulleitung.

Erwarten womöglich auch Eltern zu viel von der Schule und von ihren Kindern?

Der Druck kommt nicht ausschliesslich von überehrgeizigen Eltern. Sie möchten ja einfach das Beste für ihre Kinder. Dazu gehört gute Bildung. Unser internationalisiertes Bildungssystem erwartet aber zunehmend höhere Abschlüsse. Das setzt eine Spirale in Gang. Darum beginnt die Leistungsvermessung schon viel zu früh. Dies setzt wiederum die Eltern unter Druck.

Wie sollte demnach die Schule der Zukunft aussehen, um den Schülerinnen und Schülern wirklich gerecht zu werden?

Es muss eine Schule sein, die von der Leistungsorientierung und dem ständigen Vermessen wegkommt. Noch dominieren Noten die Schule. Der Fokus ist zu stark auf diese Hardskills gerichtet. Damit Kinder ihre Talente entfalten können, brauchen sie aber auch überfachliche Kompetenzen, also Softskills.

Was soll den Fokus auf die Noten ablösen?

Lehrpersonen sollen sich stärker an den Potenzialen der Schülerinnen und Schüler orientieren. Das wirkt zwei Übeln entgegen: Es gibt zwar Ausnahmen, aber in unserem System überwiegt die Suche nach dem, was die Jungen nicht können. Das Problem der heutigen Beurteilung ist zudem, dass die Herkunft eine grosse Rolle spielt. Kinder aus gut situierten Familien werden besser eingeschätzt als jene aus einfachen Verhältnissen. Das ist die Achillesferse unseres Systems.

Bildungsmesse Swissdidac

Margrit Stamm hält am 22. November an der Bildungsmesse Swissdidac in Bern ein Referat zum Thema «Leistungsgesellschaft: Welche Schule braucht das Kind?». Der Dachverband Lehrerinnnen und Lehrer Schweiz wird mit einem Stand an der Messe vertreten sein. Mehr Informationen gibt es hier auf der Webseite der Swissdidac

Datum

13.11.2023

Autor
Patricia Dickson

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