Schadet die Digitalisierung der Beziehung zwischen den Lehrpersonen und den Lernenden?
Nicht unbedingt. Es wäre jedoch ein Irrtum zu meinen, dass die Digitalisierung grössere Klassen ermöglicht. Es reicht auch nicht, jedes Kind mit einem Tablet auszurüsten. Digitalisierung ist weitreichender. Wenn die Schülerinnen und Schüler digitaler arbeiten, braucht es sogar mehr Interaktion mit der Lehrperson.
Warum?
Die Arbeit mit digitalen Geräten erfordert mehr Selbstständigkeit. Kinder und Jugendliche müssen selbstständiges Arbeiten und kritisches Denken erst erlernen. Sie können technische Geräte zwar gut bedienen, aber zum Beispiel nicht unbedingt Werbung von Journalismus unterscheiden. Eine Rechercheaufgabe allein reicht da nicht. Es braucht die Unterstützung und Anleitung der Lehrperson dafür.
Wie kann man die Schülerinnen und Schüler dafür richtig abholen?
Die Digitalisierung ist in erster Linie eine technische Veränderung. Aber daraus ergeben sich pädagogische Fragen. Es braucht also eine neue Didaktik, die pädagogisch fundiert ist und nicht nur technisch. Darum müssen Lehrpersonen in der Aus- und Weiterbildung Werkzeuge erhalten, um Kindern und Jugendlichen einen verantwortungsvollen Umgang mit Technologie lehren zu können.
Ist das nicht Aufgabe der Eltern?
Das ist nicht in jeder Familie gegeben. In der Pandemie sah man, dass nicht alle daheim die nötige Unterstützung für den Fernunterricht hatten. Etwa zehn Prozent der Lernenden verloren in dieser Zeit den Anschluss.
«Jugendliche müssen lernen, auf ihr Gegenüber einzugehen.»
Die Pandemie zeigte uns also die Schwachstelle der digitalen Bildung?
Ja. Man sagte, diese Schülerinnen und Schüler seien leistungsschwächer. Es sind aber genau jene, denen die Schule lehren muss, wie man selbstständig arbeitet und auch dranbleibt.
Besonders die Wirtschaft fordert, dass Schule auf die digitale Arbeitswelt vorbereitet. Was braucht es dazu?
Was besonders fehlt, auch in der Berufsbildung, sind überfachliche Kompetenzen. Fähigkeiten wie Hartnäckigkeit, Durchsetzungsfähigkeit oder Frustrationstoleranz helfen, Probleme zu erkennen und Lösungen zu finden. Wichtig ist zudem, dass Jugendliche lernen, auf ihr Gegenüber einzugehen. Das brauchen sie dann spätestens im Kundengespräch oder wenn sie einen Pflegeberuf erlernen.
«Die Zunahme psychischer Probleme hängt nur teilweise mit dem Leistungsdruck in der Schule zusammen.»
Erlernen die Jugendlichen diese Fähigkeiten nicht zum Teil schon im Umgang miteinander?
Jugendliche tauschen sich heute mehrheitlich über digitale Kanäle aus. Es ist aber etwas anderes, wenn sie dann im Team arbeiten und sich auf andere einlassen müssen. Fachleute beobachten in der Ausbildung zudem, dass junge Menschen oft zu wenig selbstkritisch sind und bloss Forderungen stellen.
Widerspricht das nicht der These, dass Jugendliche unter hohem Leistungsdruck stehen und darum vermehrt unter psychischen Problemen leiden?
Die Zunahme psychischer Probleme ist tatsächlich markant. Das hängt aber nur teilweise mit dem Leistungsdruck in der Schule oder in der Ausbildung zusammen. Zeit- und Leistungsdruck sind auch im Privaten gestiegen. Eine neue Studie aus Deutschland zeigt, wie bestimmend das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung geworden ist. Dieses Verlangen nach Likes belastet die Jungen stark. Sie stehen unter dem Druck, schnell zu antworten und viel zu posten. Das ist die Kehrseite der Digitalisierung. Sie sollen auch diese Seite der Digitalisierung thematisieren. Lehrpersonen holen so die Schülerinnen und Schüler ab, wo sie Sorgen haben. Sie können mit der Klasse darüber sprechen, wie abhängig sie von digitalen Geräten und sozialen Netzwerken sind. Daraus entstehen gute Gespräche.
Sprengt das nicht den Rahmen des ohnehin schon vollen Stundenplans?
Das kann sein. Der Lehrplan 21 ist schon überladen. Das setzt auch Lehrerinnen und Lehrer unter Druck. Da ist die Schule als Ganzes gefragt, ihnen nicht immer neue Aufgaben aufzubürden. Darum braucht es in der Schule vermehrt gute Teamarbeit – nicht nur unter den Lehrpersonen, sondern auch mit der Schulsozialarbeit oder mit der Schulleitung.