In jedem grösseren Schulhaus in der Schweiz sitzt Schätzungen zufolge eine Handvoll Schulkinder stumm in ihren Klassenzimmern. Sie schweigen während Monaten oder Jahren, obwohl sie über entsprechende Sprachkompetenzen verfügen. Fachleute nennen dieses Verhalten selektiver Mutismus. Offiziell kategorisiert als Angststörung, sehen es viele Expertinnen und Experten eher als eine massive Stressreaktion des autonomen Nervensystems. In der Schweiz sind davon zwischen 0,7 und 2 Prozent der Schulkinder betroffen. Die Dunkelziffer ist laut Fachleuten um vieles höher. Denn für selektiven Mutismus gibt es kein einheitliches Erscheinungsbild.
Kein Fall ist gleich
Die Kinder- und Jugendpsychologin Franziska Florineth ist auf selektiven Mutismus spezialisiert. In den vergangenen 25 Jahren habe sie mehr als 100 Kinder und Jugendliche mit der entsprechenden Diagnose therapiert. Kein Fall ist gleich. «Selektiver Mutismus ist komplex. In der Regel reden die betroffenen Kinder zu Hause normal. Sie schweigen beispielsweise erst, wenn sie das Schulhaus betreten, gegenüber einer bestimmen Lehrperson oder gegenüber bestimmten Gleichaltrigen», erklärt Therapeutin Florineth.
Das Verhalten ist für das Umfeld belastend. «Ein Kind, das mit allen redet, nur mit der Lehrperson nicht, kann bei der betroffenen Lehrkraft Unmut, Unverständnis oder Aggressionen auslösen», sagt Florineth. Ausgelöst wird die Blockade in solchen Fällen nicht durch die Persönlichkeit der Lehrperson, sondern durch ihre Rolle als Respektsperson. Doch mit einem Kind konstant nachsichtig zu sein, das reden könnte, aber nie antwortet oder nur mit Gesten reagiert, kostet Kraft.
Unsicherheit, die stumm macht
Die genauen Ursachen für mutistisches Verhalten sind unklar. Bekannt sind verschiedene Faktoren, welche die Störung begünstigen. 35 bis 50 Prozent der Kinder, die an selektivem Mutismus leiden, haben zusätzlich eine Sprachstörung. Sie fühlen sich in ihrer Sprache unsicher und haben Angst, Fehler zu machen. Überdurchschnittlich viele mutistische Schulkinder verfügen über einen Migrationshintergrund. «Für sie ist nicht nur die neue Sprache ein Unsicherheitsfaktor, sondern auch der Verlust ihrer gewohnten Umgebung und Gesprächskultur», erklärt Florineth. Nimmt das Gefühl der kompletten Unsicherheit überhand, gibt es Kinder, die verstummen.
«In der Therapie geht es darum, dass die Betroffenen das Gefühl der enormen Unsicherheit überwinden.»
Therapie braucht Geduld
Hinter dem Verhalten dieser Kinder steht kein böser Wille oder Absicht. Sie sind in solchen Momenten wie eingefroren, blockiert. Eine Therapie kann die Blockade lösen. «In der Therapie geht es darum, dass die Betroffenen das Gefühl der enormen Unsicherheit überwinden», sagt Florineth. Das braucht Teamwork. Involviert sind neben Therapeutinnen und Therapeuten auch die Familie, Schule sowie die Klassenkameradinnen und -kameraden.
Wenn möglich findet der erste Kontakt zu Hause, im persönlichen «safe place», des Kindes statt. Danach wird in kleinen Schritten Vertrauen und Mut aufgebaut. Der Lehrperson werden zum Beispiel Sprachnachrichten geschickt. Zuerst nur ein Wort, danach ein kurzer Satz, bis hin zur kompletten Nachricht. Geübt wird so lange, bis sich das Kind genügend sicher fühlt, um die Lehrperson direkt anzusprechen.
Entwicklung braucht Zeit. Bei selektivem Mutismus sind es manchmal Jahre. «Wichtig ist es, früh zu agieren und eine erfahrene Fachperson zu suchen», rät Florineth. Für pädagogische Fachpersonen gibt es Fragebogen, die auf selektiven Mutismus hinweisen könnten. «Denn wenn ein Kind während Monaten nicht oder kaum redet, ist es nicht ein Machtspiel oder eine Laune, sondern ein ernstzunehmendes Problem».
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