Standpunkte

Gedanken zum Einsatz des Nachteilsausgleichs

Wer aufgrund einer Lernstörung oder Behinderung benachteiligt ist, soll Leistungstests unter angepassten Bedingungen durchführen dürfen. Dafür sorgt der Nachteilsausgleich. Dorothee Miyoshi zieht nach über 10 Jahren eine Bilanz.

An vielen Orten wird der Nachteilsausgleich (NA) professionell und versiert angewendet und damit ein wesentlicher Beitrag geleistet, Benachteiligungen von Lernenden mit Behinderungen mithilfe von individuellen Massnahmen zu vermeiden oder zu vermindern. Doch lässt sich auch feststellen, dass dieses Instrument nicht überall genügend bekannt ist und manchmal nicht oder nur mangelhaft zum Einsatz kommt. Das kann bei betroffenen Anspruchsgruppen zu viel unnötigem Leid führen.

Eine Sekundarschülerin mit attestierter Dyslexie berichtete mir verzweifelt, dass ihr NA in den Fächern Französisch und Englisch nicht eingesetzt wird, obwohl dies gemäss den Richtlinien so vorgesehen ist. Im Gespräch mit den Lehrpersonen stellte sich heraus, dass sie mit der Anwendung des NA überfordert waren, denn die zuständige Schulische Heilpädagogin (SHP) fehlte schon ein halbes Jahr und konnte nicht ersetzt werden. Es braucht also genug fachliche wie personelle Ressourcen und eine Schulleitung, die in so einer Situation die notwendige Unterstützung gewährleisten kann.

Umfassendes Kommunikationsmanagement und fachlicher Support

Ein als Heilpädagoge angestellter Lehrer ohne SHP-Diplom fragte mich, wie denn ein NA überhaupt eingesetzt wird. Ihm wurde kein Mentorat zur Verfügung gestellt. Wenn schon so viele unausgebildete Lehrpersonen als SHP eingesetzt werden, braucht es zwingenderweise ein geeignetes bezahltes Mentorat und Fachstellen, die schnell und kompetent beraten können. Alle notwendigen Informationen für die professionelle Berufsausführungen sollten für alle digital zur Verfügung stehen. Was eigentlich eine Selbstverständlichkeit, doch noch nicht überall der Fall ist.

«Es ist längst noch nicht klar ist, wie der Nachteilsausgleich in Prüfungssituationen eingesetzt werden soll.»

Geregelte Anwendung

Ich kenne viele Fälle von Lernenden, die immer noch mit Nachteilen zu kämpfen haben: Ein Maturand berichtet mir, dass er seinen NA ausgerechnet bei der Abitur-Prüfung nicht anwenden durfte. Eine Mutter beschwert sich bei mir, dass ihr Sohn bei der Überprüfung des Erreichens der Grundkompetenzen (ÜGK) kein NA gewährt wurde. Eine Schülerin beklagte sich, dass sie ihren NA bei den Checks im Bildungsraum Nordwestschweiz nicht benutzen konnte und eine Studentin geht vor Bundesgericht, da ihr NA für den Numerus Clausus nicht akzeptiert wird. Diese aktuellen Beispiele zeigen, dass längst noch nicht klar ist, wie der NA in Prüfungssituationen eingesetzt werden soll.

Nationale Standards für den Nachteilsausgleich

Im interkantonalen Austausch hat sich gezeigt, dass sowohl Anspruch, Zugang und Massnahmen betreffend den NA unterschiedlich geregelt sind. Ein Kind mit einer Beeinträchtigung wie zum Beispiel ADHS würde also nicht in allen Kantonen dieselbe Handhabung erleben. Föderalismus in Ehren, doch sollte die Schweiz hier aus meiner Sicht einheitlich handeln. Ansonsten ist es ortsabhängig und zufällig, welche Unterstützung ein Kind mit speziellen Bedürfnissen erhält oder eben nicht.

Es geht in Richtung Universal Design for Learning

Die moderne Unterrichtsentwicklung bewegt sich in eine Richtung, dass die Zugänglichkeit der Inhalte und Methoden des Unterrichts für alle Lernenden sichergestellt ist (Universal Design for Learning). In einem allen zugänglichen Lernumfeld – sowohl in baulicher, digitaler und didaktischer Hinsicht – wird die Zahl der notwendigen individuellen Massnahmen abnehmen, da der Bedarf an Unterstützungsmassnahmen häufig in Barrieren liegt, welche im Lernumfeld bestehen.

Datum

16.08.2023

Autor
Dorothee Miyoshi

Publikation
Standpunkte