«Gewalt sollte man nicht tabuisieren»

Unter dem Titel «Immer mitten in die Fresse rein» spricht Literaturwissenschaftlerin Anna Stemmann im September an der SIKJM-Jahrestagung über Gewalt in Jugendbüchern. Dabei unterscheidet sie zwischen Effekthascherei und literarischer Relevanz.

An der Jahrestagung des Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendliteratur wird Anna Stammann über Gewaltdarstellung aus der Sicht der Literaturwissenschaften sprechen. Bild: Peter Rinnerthaler

LCH.ch: «Immer mitten in die Fresse rein» ist ein provokanter Titel. Ist es wichtig, dass Jugendliteratur provoziert?
ANNA STEMMANN: Sie kann provozieren, muss aber nicht. Das Zitat stammt aus einem Song der Punkband «Die Ärzte». Es soll vor allem deutlich machen, dass die Gewalt ein Teil der Jugendkultur ist. Das Thema beschäftigt Jugendliche.

Wie hat sich die Darstellung von Gewalt in Jugendbüchern in den letzten Jahren verändert?     
Sie hat ihre didaktische Funktion verloren. Schon in der Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts war Gewalt präsent. Sie diente jedoch der Vermittlung von Werten und Normen. Die Botschaft war klar: Wer sich nicht daranhält, dem widerfährt Schlimmes.

Und heute?
Eine grosse Veränderung geschah in den 1970er-Jahren als auch mit traditionellen Vorstellungen, was Jugend ist, gebrochen wurde. Seitdem erzählt die Literatur mehr von den Facetten des Erwachsenwerdens und den damit verbundenen Problemen. In Film und TV fällt ausserdem vermehrt die visuelle Inszenierung auf. Gewalt erfüllt damit oft nur eine ästhetische Funktion als oberflächlicher Schockeffekt, wie man ihn von Erfolgsserien wie «Squid Game» oder «Game of Thrones» kennt.

Das sind TV-Serien. Sind Jugendbücher harmloser als visuelle Medien?
Auf den ersten Blick schon. In der geschriebenen Literatur wird mehr mit Andeutung und Auslassung gearbeitet. Die Schilderungen sind deswegen jedoch nicht unbedingt weniger brutal. Die Bilder entstehen dann einfach in den Köpfen der Leserinnen und Leser. Bei aktuellen Neuerscheinungen in der Jugendliteratur werden vermehrt physische und psychische Gewalt thematisiert. Die Geschichten erzählen von Traumata, die in der Familie oder auf der Flucht erlebt werden.

Welche Voraussetzungen muss gute Jugendliteratur erfüllen?
Ich unterscheide bei der Beurteilung Inhalt und Form. Inhaltlich interessiert mich, ob die Konflikte der Jugend facettenreich dargestellt werden. Bei der Form achte ich darauf, wie das Thema literarisch umgesetzt wird, ob die Erzählung zum Beispiel mit Symbolen interessant gestaltet ist.

Welche Grenze sollte aus Ihrer Sicht bei der Gewaltdarstellung nicht überschritten werden?
Das ist eine schwierige Frage. Man muss jeweils einordnen, wie sich eine Gewaltdarstellung in die Erzählung einfügt. Soll sie nur schocken? Dann ist sie problematisch. Wenn sie jedoch differenziert eine Erfahrung aufzeigt, kann man Gewalt auch schonungslos thematisieren. Neuerdings weisen Buchverlage mit Warnungen auf Gewaltdarstellung hin und geben beim Thema Suizid Hilfskontakte an. Diese Einbettung ist eine wichtige Strategie.

Was sagen Sie Erwachsenen, die sich an Gewalt in der Jugendliteratur stören?
Gewalt sollte man nicht tabuisieren. Es ist wichtig, dass Jugendliche Erfahrungen verarbeiten oder fiktiv machen können. Literatur schafft dafür einen sicheren Raum und gewährt neue Perspektiven.

 

Zur Person

Anna Stemmann ist Juniorprofessorin für Neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur an der Universität Leipzig. Sie ist in der Jury für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2023/2024 und Gastrednerin an der Jahrestagung des Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendliteratur zum Thema Provokation in der Kinder- und Jugendliteratur.

«Nichts für Kinder?» – SIKJM-Jahrestagung 2022

Die Tagung des Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) beschäftigt sich mit der Herausforderung polarisierender Kinder- und Jugendbücher. In Referaten und Diskussionen wird dabei auch ein Blick auf aktuelle gesellschaftliche Kontroversen geworfen. Die Tagung findet am 21. September 2022 im Volkshaus Zürich statt.

Datum

04.08.2022

Autor
Patricia Dickson