Bücher & Medien

«Wer nicht spielen kann, kann nicht lernen»

Das neu erschienene Buch «Mut zum freien Spiel» liefert Anregungen, wie Lehrerinnen und Lehrer des Zyklus 1 dem kindlichen Spieltrieb im Unterricht gerecht werden können. Im Interview berichten die Autorinnen Irène Güntert und Sandra Wullschleger sowie Autor Dominique Högger von ihren Erfahrungen. 

Geschrieben haben das Buch Irène Güntert, Dominique Högger und Sandra Wullschleger (v.l.). Foto: Oliver Moor

Ein Haus aus Tüchern bauen, auf Stapelsteinen durch Lava laufen oder draussen mit Erde und Töpfen kochen: Beim freien Spielen sind der kindlichen Fantasie keine Grenzen gesetzt. Für Lehrpersonen kann diese Spielform jedoch eine Herausforderung sein, die mit vielen pädagogischen Fragestellungen verbunden ist. Anregungen dazu liefert das neu erschienene Buch «Mut zum freien Spiel» von Irène Güntert, Sandra Wullschleger und Dominique Högger. Irène Güntert und Sandra Wullschleger unterrichten in Zofingen im Kindergarten Natur&Bewegung. Gemeinsam mit den Kindern verbringen sie viel Zeit im Wald. Dominique Högger ist ehemaliger Leiter der Beratungsstelle für Gesundheitsbildung und Prävention an der PH der Fachhochschule Nordwestschweiz. Kennengelernt hat sich das Trio in einem Weiterbildungskurs zum Thema «Erfahrungsräume für Purzelbäume».

 

BILDUNG SCHWEIZ: Wieso braucht es Mut für das freie Spiel?

DOMINIQUE HÖGGER:  Freies Spiel bringt Dynamik mit sich, zum Beispiel mehr Bewegung oder mehr Kreativität. Wenn die Kinder ausgefallene Ideen haben, Material ungewöhnlich einsetzen oder mehr Platz und Zeit brauchen als eigentlich vorgesehen, kann das auch unangenehme Seiten haben. Lehrpersonen können dann weniger planen. Sie müssen sich auf die Prozesse der Kinder und offene Entwicklungen einlassen können. Das braucht Flexibilität und eben auch Mut.

Worauf legt ihr beim Freispiel in eurem Kindergarten besonders Wert?

IRÈNE GÜNTERT: Jedes Kind soll sich wohlfühlen. Es muss den Ort, das Material und die «Gspändli» fürs Freispiel finden. Durch Beobachtungen und Erfahrungen versuche ich eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Kinder in ihren Vorhaben begleitet und unterstützt werden. So können sich die Kinder entfalten und weiterentwickeln. Es entstehen dynamische, kreative und ergebnisoffene Prozesse. Wenn die Kinder in diesen Spielflow hineinfinden, erfüllt dies auch mich mit Freude und Zufriedenheit.

Sandra Wullschleger, worin unterscheidet sich das Freispiel im Wald von jenem drinnen?

SANDRA WULLSCHLEGER: Eigentlich unterscheiden sich nur der Ort und das Material. Die Philosophie und die Haltung von uns Lehrerinnen bleibt dieselbe. Im Wald stehen neben dem vielen unstrukturierten Naturmaterial noch Werkzeug und ausgediente Kochutensilien zur Verfügung.  Weil wir Lehrpersonen im Wald selbst sehr aktiv und im Tun sind, lernen die Kinder auch intensiv am Rollenmodell. Die Kinder haben mehr Freiraum, um ihrem Bedürfnis nach Bewegung oder Lautstärke nachzukommen, da der Wald grosszügige Rückzugsmöglichkeiten bietet.

Dominique Högger, Sie befassen sich mit kindlichen Spiel und dem Drang nach Bewegung. Wie steht es in Kindergärten und Schulen momentan ums Freispiel?

DOMINIQUE HÖGGER: Ich habe nur die Praxis meiner Weiterbildungsteilnehmerinnen kennengelernt, und diese ist sehr vielfältig. Generell kann ich sagen: Die meisten Teilnehmerinnen waren schon sehr aufs Freispiel bedacht und haben dennoch weitere Entwicklungen erprobt. Sie berichteten danach von positiven Auswirkungen, von hoher Spielqualität und schöner Spielatmosphäre.Wenn ich das nun zu verallgemeinern versuche, würde ich vermuten: Ein solches Entwicklungspotenzial gibt es in zahlreichen Kindergärten und Schulen.

Irène Güntert, Sie haben einen Weg gefunden, auch das Aufräumen ins Spiel zu integrieren. Welche Tipps haben Sie diesbezüglich?

IRÈNE GÜNTERT: Zentral sind folgende Überlegungen: Was hilft den Kindern, dass sie am nächsten Tag wieder gut ins Spiel einsteigen können? Welche Ordnung braucht es? Was darf liegenbleiben? Natürlich gibt es von Aussen gesetzte Rahmenbedingungen wie den Putzplan des Hauswartteams und das eigene Ordnungsbedürfnis. Aber es lohnt sich, immer wieder zu reflektieren: Was sind meine persönlichen Wertvorstellungen und was braucht das Kind? Wie das geht, wird im Buch anschaulich beschrieben.

Frau Wullschleger, Sie besuchen derzeit als Quereinsteigerin die PH Welchen Stellenwert hat das Freispiel in der Ausbildung?

SANDRA WULLSCHLEGER: An der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz wird das EULE-Modell für den Unterricht im Zyklus 1 ins Zentrum gestellt. Die Abkürzung steht für Eigenzeit, Unterrichtsumgebung, Lebens- und Erfahrungsraum. Das Freispiel wird als Teil der Eigenzeit gelehrt. Wie sich das in der Praxis entfaltet, lernt man später während der Unterrichtspraxis und durch die Dynamik der Kinder. Die Beschreibungen im Buch können Lehrpersonen helfen, die vielen Lernanreize des Freispiels zu erkennen und die erworbenen Kompetenzen ebenfalls in die Beurteilung einfliessen zu lassen.

Gemäss Lehrplan 21 gehört das Freispiel zum Zyklus 1. In vielen Unterstufenklassen findet es aber schlicht nicht statt. Welche Argumente sprechen für das Freispiel in der Schule?

SANDRA WULLSCHLEGER: Es sind dieselben Gründe wie im Kindergarten. Wer nicht spielen kann, kann auch nicht lernen. Manchmal befürchten Lehrpersonen, dass sie die die geforderten Kompetenzen nicht erreichen, wenn Zeit für das Spiel eingesetzt wird. Dabei ist eigentlich das Gegenteil der Fall. Gerade im Spiel eignen sich Kinder viel Neues an und sind hochmotiviert. Wichtig ist, dass die Lehrpersonen das Freispiel fix einplanen, damit es auch stattfinden kann. Wir müssen uns bewusst sein, dass das Freispiel eine wichtige Vorbereitung für das selbstgesteuerte Lernen ist und mitentscheidend für die soziale Entwicklung.

Sie haben je einen Wunsch frei: Was soll das Buch bei den Leserinnen und Lesern auslösen?

IRÈNE GÜNTERT: Ich wünsche mir, dass sie dem Freispiel Platz geben, damit sich die Kinder wirklich frei entfalten können. Im freien Spiel lernen die Kinder mehr als beim gesteuerten Lernen. Sie werden mutiger, zuversichtlicher und tanken Vertrauen ins eigene Können.

SANDRA WULLSCHLEGER: Das Buch soll Lehrerinnen und Lehrern einen entspannten Weg hin zum Freispiel ermöglichen. Sie werden ermutigt, sich nicht verunsichern zu lassen, wenn ein Spiel eine andere Richtung einschlägt, als sie vielleicht ursprünglich geplant hatten. Das Leben, das Spielen und das Lernen sind dynamisch und bewegt.

DOMINIQUE HÖGGER: Den Mut zu haben, auch den eigenen Beruf oder sogar das ganze Leben spielerisch zu nehmen, also sich aus einer Lust oder einer Neugier heraus immer wieder auf offene Prozesse einzulassen.

Datum

23.03.2023

Autor
Anita Zimmermann

Themen