Jugendliche mit psychischen Problemen

«Wichtig ist, dass Lehrpersonen etwas unternehmen»

Fehlen Jugendliche plötzlich im Unterricht, ist dies für Filomena Sabatella ein Warnzeichen. Die Psychologin beschäftigt sich mit der Früherkennung psychischer Probleme. Lehrerinnen und Lehrer nehmen dabei eine wichtige Rolle ein.

Verändert sich das Verhalten von Jugendlichen plötzlich, kann das ein Hinweis auf psychische Probleme sein. Foto: iStock/Ridofranz

LCH.ch: Warum nehmen psychosoziale Probleme bei Jugendlichen zu?
FILOMENA SABATELLA: Häufig wird als Grund für die Zunahme Corona verantwortlich gemacht. Man muss jedoch sagen, dass wir in der Schweiz noch nicht so genau wissen, ob es diese Zunahme wirklich gegeben hat, weil wir wenig Daten zur psychischen Gesundheit unserer Jugendlichen haben. Was wir aber wissen, ist, dass es eine Zunahme an Hospitalisierungen in der Psychiatrie gegeben hat. Zudem wissen wir auch, dass die ambulanten Angebote in der ganzen Schweiz stark ausgelastet sind. Der Verdacht ist also nachvollziehbar, dass dies auf eine Zunahme der Erkrankungen hinweist und dass Corona in diesem Zusammenhang eine Triggerfunktion hatte, die Einsamkeit und Ängste verstärkte.

Welche Diagnosen liegen bei den Jugendlichen vor, die unter psychischen Problemen leiden?
Am häufigsten sind affektive Störungen, wie zum Beispiel Depressionen, dann folgen Angststörungen, Zwangsstörungen oder Suchterkrankungen.

«Viele Jugendliche wissen gar nicht genau, was Psychotherapie ist.»

 

Im Projekt inklusiv plus, das Sie begleitet haben, werden Jugendliche im Berufswahlprozess unterstützt. Wie muss man sich das vorstellen?
Wir haben festgestellt, dass arbeitslose Jugendliche in der Schweiz sehr stark psychisch belastet sind. In den Motivationssemestern, die sie besuchen, geht es aber vor allem darum, dass sie eine Arbeit finden. Eine Gruppentherapie in den Motivationssemestern soll es den Jugendlichen ermöglichen, ihrer psychischen Gesundheit Raum zu geben. Dabei kann Jugendlichen aufgezeigt werden, wo man sich Hilfe holen kann. Viele Jugendliche wissen nämlich gar nicht genau, was Psychotherapie ist.

WAS SCHULE UND LEHRPERSONEN TUN KÖNNEN
Jugendliche, die wegen psychischer Probleme Hilfe brauchen, müssen oft monatelang warten. Die Anlaufstellen sind überlastet. Fachleute schlagen Alarm. Grundsätzlich durchleben Jugendliche der Sekundarstufe I in der Oberstufe eine Zeit grosser Umbrüche. Sie treten als Kinder auf der Schwelle zum Erwachsen werden in die Oberstufe ein und verlassen die Oberstufe als junge Erwachsene, die eine Lehre antreten, ins Berufsleben einsteigen oder eine weiterführende Schule besuchen. Die Fachkommission Berufliche Orientierung des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz empfiehlt im Hinblick auf die Schule präventive Massnahmen und betont, wie wichtig eine gute Begleitung ist. Konkret hebt sie vier Punkte hervor:
- Unterstützung bei der Berufswahl und der Lehrstellensuche gibt Jugendlichen Rückhalt. Es ist wichtig, aufmerksam zu sein und gut hinzuschauen.
- Abrupte Verhaltensveränderungen können auf psychische Probleme hinweisen.
- Tauchen solche Probleme auf, nicht zu lange warten und professionelle Hilfe holen.
- Versinken Jugendliche in psychischen Problemen, ist Geduld wichtig. Schule und Lehrpersonen sollen ihnen Zeit und eine Chance geben.

Welches sind Erfolgsfaktoren, damit Jugendliche den Sprung ins Berufsleben schaffen?
Aus der Bildungsforschung weiss man, dass eine gute Passung zwischen Interessen, Persönlichkeit und der ausgesuchten Lehrstelle wichtig ist. Sie erhöht die Chancen, dass Jugendliche ihre Berufslehre erfolgreich abschliessen. Jugendliche müssen sich in der Schweiz relativ früh entscheiden. Nicht alle sind dann schon in der Lage dazu. Obwohl sie beispielsweise gut über Berufe und ihre Möglichkeiten Bescheid wissen, kann es sein, dass sie unentschlossen darüber sind, was sie machen möchten. Diese Jugendlichen brauchen Unterstützung durch Erwachsene wie zum Beispiel Eltern oder andere Bezugspersonen.

Psychische Probleme bleiben sicher auch während der Ausbildung eine Hypothek?
Wenn Jugendliche mit einer psychischen Problematik eine Lehrstelle finden, können verschiedene Faktoren erschwerend sein. Wenn die Erkrankung noch vorliegt, möchten sie diese verständlicherweise verheimlichen. Sie möchten nicht, dass der Arbeitgeber oder das neu gewonnene Umfeld darüber Bescheid weiss, was auch nachvollziehbar ist. Früher oder später kann es aber wieder zu einer Krise kommen. So wird jemand wieder mit einer depressiven Krise reagieren, wenn sich bei der Umstellung in der Lehre Schwierigkeiten ergeben. Dann erscheinen beispielsweise Jugendliche zu spät oder gar nicht zur Arbeit. Arbeitgeber erfahren oft erst dann von einem psychischen Problem. Darunter leidet das Vertrauen in einander. Allerdings haben die Jugendlichen nicht ganz zu Unrecht Angst davor, über ihre psychischen Erkrankungen zu reden, weil man aus verschiedenen Studien aus der Schweiz weiss, dass sich Arbeitgeber in solchen Fällen eher von einer Anstellung zurückscheuen.

Wie können Lehrpersonen psychisch belastete Jugendliche unterstützen?
Wichtig ist die Begleitung im Berufswahlprozess, ähnlich wie diese Begleitung auch bei gesunden Jugendlichen erfolgt. Wenn die psychische Belastung den Berufswahlprozess zu stark behindert, ist der Einbezug  der Eltern oder anderer hilfreicher Bezugspersonen angezeigt. Zudem kann die Lehrperson auch die Jugendlichen ermutigen, selbst Hilfe zu holen. Schwierig ist es, wenn sowohl Jugendliche als auch die anderen Beteiligten in der Situation ausharren, sodass keine Anschlusslösung gefunden werden kann. Dies wiederum verschlimmert meistens die psychische Erkrankung.

Woran erkennt die Lehrperson denn, ob Jugendliche unter psychosozialen Problemen leiden?
Abrupte Verhaltensänderung sind ein Indiz für psychische Probleme. Das kann beispielsweise ein Leistungsabfall in der Schule sein, aber auch ein Rückzug, beziehungsweise Schulabsentismus sein. Wenn ruhige Jugendliche plötzlich aggressiv reagieren, können das auch erste Anzeichen sein, dass man genauer hinschauen soll.

An welche Stellen können sich Lehrpersonen wenden?
Die meisten Schulen arbeiten mit der Schulsozialarbeit zusammen. Zudem wird oft auch der schulpsychologische Dienst beigezogen. Weitere Kooperationspartner sind natürlich die Eltern, sofern der Verdacht eher unspezifisch ist und die Lehrperson findet, dass sich der oder die Jugendliche Hilfe holen sollte. Wenn das Problem bereits bekannt ist, kommen auch spezialisierte Fachstellen infrage. Wichtig ist, dass Lehrpersonen etwas unternehmen und bei einem Verdacht oder einem unguten Gefühl auf die Jugendlichen oder auf Fachpersonen zugehen.

Inwiefern beeinflussen die sozialen Medien die psychische Gesundheit der Jugendlichen?
Studien zeigen, dass soziale Medien einen negativen Einfluss auf die psychische Gesundheit haben können – beispielsweise im Zusammenhang mit dem Selbstwertgefühl. Jugendliche tendieren dazu, sich auf Social Media zu vergleichen. Das kann eine unrealistische Wahrnehmung des Körperbilds fördern. Vor allem junge Frauen scheinen gefährdet zu sein, bei exzessiver Mediennutzung Depressionen zu entwickeln. Social Media hat allerdings auch positive Seiten, Jugendliche können ihren Freundeskreis erweitern, sich kreativ ausdrücken mit digitalen Medien, beispielsweise TikTok-Videos. Social Media verursacht also das Problem nicht per se. Meistens wird ein bereits vorhandenes Problem akzentuiert oder verschlimmert.

Datum

06.04.2023

Autor
Barbara Dautidis, Fachkommission Berufliche Orientierung LCH