Standpunkt

Herkunft darf nicht über Zukunft entscheiden

Kinder haben in der Schweiz ungleiche Bildungschancen, unabhängig von ihrem Potenzial oder ihrer schulischen Leistung. Ein wenig beachteter Faktor hierbei ist auch die zu frühe Selektion beim Übertritt in die Oberstufe.

Antoinette Killias, Geschäftsführerin LCH, wünscht sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit der zu frühen Selektion in der Schule. Foto: LCH/Philipp Baer

«Meine schulische und berufliche Karriere darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es noch viele Veränderungen und eine gesellschaftliche Diskussion braucht, damit es Kinder aus einfachen Verhältnissen so weit bringen wie ich», meinte eine junge Frau, die ich kürzlich kennenlernen durfte. Sie ist im Alter von sieben Jahren mit ihrer Familie in die Schweiz gezogen, hat die PH abgeschlossen und arbeitet heute mit 30 als Primarlehrerin und als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einer PH. Sie ist ein Beispiel, an dem aufgezeigt werden könnte, dass die soziale Mobilität in der Schweiz funktioniert. 

Doch die Forschung zeichnet ein anderes Bild. So bestätigen zum Beispiel der aktuelle Bildungsbericht 2023 oder die Studie PIONEERED 2023 der Universität Bern, was wir eigentlich schon alle wissen: Die soziale Mobilität in der Schweiz ist nicht Realität. Wir reden hier von einer ungleichen Verteilung von Bildungschancen von Kindern mit gleichen Leistungen und gleichem Potenzial. Es ist hinlänglich bekannt, dass Faktoren wie etwa der familiäre Hintergrund, die unterschiedliche Einstellung und Erwartungshaltung der Lehrpersonen oder die frühe Förderung Einfluss auf die schulische Laufbahn haben.

Frühe Selektion zementiert Ungleichheit

Weit weniger diskutiert wird der verfrühte Zeitpunkt der Selektion, die beim Übertritt von der sechsten Klasse in die Oberstufe stattfindet. Der heutige Übertritt ist leistungsorientiert, verfestigt Leistungsunterschiede und birgt das Risiko von Bildungsungleichheit. Dabei sagt uns die Forschung, dass im Gehirn während der Pubertät viele Veränderungen stattfinden und dass der Zeitpunkt der Selektion verfrüht kommt. 

Weder auf breiter gesellschaftlicher noch politischer Ebene findet eine Diskussion über eine spätere Selektion statt. In wessen Interesse ist es, dass diese Auseinandersetzung nicht oder noch viel zu wenig stattfindet? Ist es, weil Kinder aus akademischen und bildungsnahen Familien davon profitieren und die Politik kein Interesse daran hat, dies zu ändern? Ist es, weil von Schulen eine weitere grosse Reform abverlangt würde oder dass von Lehrpersonen der höheren Stufen Widerstand zu erwarten ist?

Ich höre oft das Argument, dass die Mobilität mit der Berufsmatura und dem Zugang zu einer Fachhochschule gewährleistet sei. Dies ist zwar richtig und für viele junge Menschen inzwischen der Weg zu einer ebenfalls chancenreichen Tertiärausbildung geworden. Diese Tatsache darf aber nicht als Argument beigezogen werden, um intellektuell begabte junge Menschen aus bescheidenen Familienverhältnissen auf ein späteres Fachhochschulstudium zu vertrösten, während Kinder etwa aus Akademikerfamilien unhinterfragt die Universität besuchen dürfen.

Der «Standpunkt» ist eine monatliche Kolumne der Geschäftsleitungsmitglieder des LCH. Die Aussagen geben die persönliche Meinung der einzelnen Autorinnen und Autoren wieder.

Datum

18.04.2023

Autor
Antoinette Killias, Geschäftsführerin LCH

Publikation
Standpunkte