Trotz eindeutiger wissenschaftlicher Befunde und breiten Konsenses für eine gewaltfreie Erziehung: Bis heute fehlt der Schweizer Gesetzgebung ein Verbot von Körperstrafen ohne sichtbare Verletzungen. Eine «leichte Züchtigung körperlicher Art» ist laut Bundesgericht gar eine zulässige, elterliche Praxis. Dies, solange sie das «allgemein übliche und gesellschaftlich geduldete Ausmass» nicht übersteigt. So lautete das recht schwammige Leiturteil des Gerichts aus dem Jahr 2003. Seit Jahren scheut sich die Politik, klar Stellung für eine gewaltfreie Erziehung zu beziehen.
Standpunkt-Kolumne
Klares Bekenntnis zur gewaltfreien Erziehung – endlich!
Die Politik will die gewaltfreie Erziehung im Gesetz verankern. Gut so, findet der LCH-Vizepräsident Christian Hugi. Nicht zuletzt, weil Angst und Aggression das nachhaltige Lernen behindern.
Ein klares Bekenntnis zur gewaltfreien Erziehung und eine dazu passende Gesetzgebung sind in unmittelbare Reichweite gerückt.
Einmal mehr ist unser Land damit bei einem wichtigen Thema im Kriechgang unterwegs. Immerhin kommt nun Bewegung in die Sache. Ein klares Bekenntnis zur gewaltfreien Erziehung und eine dazu passende Gesetzgebung sind in unmittelbare Reichweite gerückt. So hat der Nationalrat Anfang Mai eine entsprechende Gesetzesanpassung deutlich angenommen, nun kommt das Geschäft in den Ständerat.
Keine Strafen für Eltern vorgesehen
Der Bundesrat will im Zivilrecht neu festhalten, dass Eltern ihre Kinder ohne Gewalt – insbesondere ohne körperliche Strafen und entwürdigende Behandlung – erziehen sollen und dass der Zugang zu niederschwelliger Beratung für Familien verbessert wird. Für die Durchsetzung zuständig bleiben die Kantone. Neue Strafen für Eltern, die ihre Kinder an Ohren oder Haaren ziehen oder einen Klaps auf den Hintern geben, sind allerdings nicht vorgesehen.
Vielmehr unterstreicht der Bundesrat den Leitbildcharakter der expliziten Erwähnung der gewaltfreien Erziehung im Zivilgesetz. Das sei ein klares Signal, dass körperliche Bestrafungen und andere Formen von erniedrigender Behandlung von Kindern nicht toleriert würden.
Verbot seit 1991
In der Schule gilt dieses Prinzip schon länger. Lehrpersonen ist es streng verboten, Schulkinder körperlich zu bestrafen. Freilich war auch hier die Schweiz keine Vorreiterin. Schläge durch Lehrpersonen galten in gewissen Fällen noch bis 2005 offiziell als entschuldbar. Dabei hatte das Bundesgericht bereits 1991 festgehalten, dass Züchtigungen in der Schule verboten seien.
Wissenschaft und Pädagogik sind sich einig: Angst und Aggression behindern nachhaltiges Lernen.
Wissenschaft und Pädagogik sind sich einig: Angst und Aggression behindern nicht nur nachhaltiges Lernen, sondern auch die Entwicklung von Selbstwert und verantwortlichem Handeln. In seinem Leitfaden zur Berufsethik hält der LCH fest, dass Lehrpersonen die Interessen und das Wohlergehen aller Schülerinnen und Schüler schützen. Lehrpersonen setzen sich dafür ein, sie vor physischer, psychischer oder sexueller Gewalt und Diskriminierung zu bewahren.
Die Stiftung Kinderschutz Schweiz schreibt auf ihrer Website, dass zwei Dinge für die Kindsentwicklung wichtig seien: Wurzeln und Flügel. Wurzeln im Sinne von einem gesunden, nahrhaften Boden, in dem die Kinder aufwachsen. Und Flügel im Sinne von Perspektiven und Möglichkeiten, um voranzukommen. Körperliche Züchtigung hingegen ist für die Erziehung gänzlich ungeeignet. Gut, dass auch die Schweiz drauf und dran ist, sich endlich klar und eindeutig zur gewaltfreien Erziehung zu bekennen. Es ist höchste Zeit.
Der «Standpunkt» ist eine monatliche Kolumne der Geschäftsleitungsmitglieder des LCH. Die Aussagen geben die persönliche Meinung der einzelnen Autorinnen und Autoren wieder.
Datum
Autor
Christian Hugi
Publikation
Standpunkte