BILDUNGSFORSCHUNG

Darum geht es in der Debatte um die schulische Selektion

In Schweizer Schulen werden die Weichen für Schülerinnen und Schüler relativ früh gestellt. Fakten zur Selektion und wie sich die Berufsverbände in der Kontroverse positionieren.

Schulkinder werden in der Schweiz im Alter von 11 bis 13 Jahren unterschiedlichen Leistungsklassen zugeteilt. Foto: iStock/JackF

Sollen Schulkinder bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit in den gleichen Klassen bleiben können? Oder ist die Zuweisung zu unterschiedlichen Bildungswegen im Alter von 11 bis 13 Jahren besser für die Förderung der Kinder? Um diese und ähnliche Fragen dreht sich die aktuelle Debatte um die schulische Selektion in der Schweiz. Die Selektion ist schon seit jeher eine Aufgabe der Schulen: An den Übergängen zwischen den Bildungsstufen werden wichtige Weichen für die weitere Bildungs- und Berufslaufbahn der Schülerinnen und Schüler gestellt.

Woher kommt die schulische Selektion?

Historisch ist die schulische Selektion in einer Gesellschaft verwurzelt, die durch soziale Stände geprägt war. Anfang des 20. Jahrhunderts entsprachen die Leistungszüge den Ständen: Bauernkinder gingen in die Realschule, Bürgerkinder in die Sekundarschule und Adelskinder ins Gymnasium. Eine Durchlässigkeit war damals nicht vorgesehen. Obwohl heute eine grössere Durchlässigkeit besteht, zeigen Studien, dass Wechsel zwischen Leistungsniveaus selten vorkommen. Dies gilt vor allem bei Schulmodellen mit strikt getrennten Leistungsniveaus. Dort erfordert eine Umteilung in ein höheres Leistungsniveau oft die Wiederholung eines Schuljahres.

Welche Faktoren beeinflussen die schulische Selektion?

Ein oft debattierter Faktor ist der Zeitpunkt der Selektion. Überlegungen über eine Verschiebung der Selektion bis zum Ende der Volksschule sind nicht neu. In zahlreichen Schulgemeinden und mehreren Kantonen (zum Beispiel im Tessin, Wallis, Obwalden, Bern, Neuenburg und Jura) gibt es bereits Modelle mit weniger strikt getrennten Stammklassen und mehr Durchlässigkeit. Neben dem Zeitpunkt spielen auch die Kriterien der Selektion und die Entscheidungsträger eine Rolle.

Ausserdem sind auch die frühe Förderung und die sozioökonomische Situation der Familien von entscheidender Bedeutung. Ein Beispiel dafür liefert die Lernstandserhebung im Kanton Zürich: Demnach stammen 92 Prozent der Schülerinnen und Schüler im Langzeitgymnasium aus der oberen Hälfte der Sozialstruktur. Im untersten Leistungszug stammen dagegen 80 Prozent aus sozioökonomisch benachteiligten Familien.

Die Schweiz wird international zu den Ländern mit der frühsten Selektion gezählt.

 

Wie steht die Schweiz im internationalen Vergleich da?

Vergleicht man die Schweiz mit anderen Ländern, fällt auf, dass die Selektion in manchen Kantonen früh erfolgt. In Italien, Frankreich und den skandinavischen Ländern werden Selektionsentscheidungen erst gegen Ende der obligatorischen Schulzeit getroffen. Wie in den deutschsprachigen Nachbarländern wird in der Schweiz vielerorts gegen Ende des Zyklus 2 selektioniert. Die Schweiz wird deshalb international zu den Ländern mit der frühsten Selektion gezählt. Dies, obschon es bei genauerem Hinsehen deutliche kommunale und kantonale Unterschiede gibt.

Wie äussern sich die Berufsverbände zur Selektion?

Die Berufsverbände der Lehrpersonen (LCH) und der Schulleitungen (VSLCH) sind in der Diskussion um schulische Selektion involviert, verfolgen aber unterschiedliche Ansätze. Der Vorstand des VSLCH stiess die aktuelle Diskussion rund um die Selektion mit der Forderung nach einer Volksschule ohne Selektion an. Diese Forderung untermauerte der VSLCH mit einer Umfrage unter Schulleitungen, in der etwas mehr als die Hälfte diese Forderung unterstützte.

Wie geht der LCH mit der Diskussion zur Selektion um?

Der LCH verfolgt einen anderen Ansatz. Die Debatte um Selektion ist eine Stellvertreterdiskussion zur Chancengerechtigkeit. Das Thema muss in diesem Kontext gesehen und deshalb vertieft betrachtet werden. Der LCH hat eine breit abgestützte, interne Diskussion zur schulischen Selektion lanciert. Diese soll zur Entwicklung einer fundierten Haltung beitragen. Sie soll auf den Perspektiven verschiedener Stufen und wissenschaftlicher Befunde basieren. Der LCH bezieht deshalb Lehrpersonen aller Stufen, Fachgremien, die Führung seiner Mitgliedsorganisationen sowie wissenschaftliche Fachpersonen ein. Diese Vorgehensweise soll sicherstellen, dass alle relevanten Perspektiven berücksichtigt werden.

Zur Person

Beat Schwendimann ist Leiter Pädagogik beim Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). Auf LCH.ch schreibt er für die Rubrik Bildungsforschung über aktuelle Studien und darüber, was die Erkenntnisse für Schule und Bildung bedeuten.

Datum

05.07.2024

Autor
Beat A. Schwendimann, Leiter Pädagogik LCH

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