Bildungsforschung

Wie rassistisch und divers sind Schweizer Lehrmittel?

Die Gesellschaft ist divers – und das sollten auch Schulbücher widerspiegeln. Gelingt das in der Schweiz? Beat A. Schwendimann, Leiter Pädagogik LCH, hat dazu eine Studie konsultiert, die Lehrmittel auf Rassismus und Diversität untersucht hat.

In einer Studie untersuchten Forschende, wie divers und rassistisch Lehrmittel sind. Foto: iStock/Ugur Karakoc

Lehrmittel prägen das Verständnis der Schülerinnen und Schüler von Geschichte, Gesellschaft und Kultur. Zudem beeinflussen sie die Wahrnehmung sozialer Normen und Identitäten. Daher ist es wichtig, dass Lehrmittel nicht nur sachlich korrekt, sondern auch inklusiv und kritisch sind – besonders hinsichtlich Rassismus und Diversität. Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) wollte wissen, inwiefern Schweizer Schulbücher diesen Anforderungen gerecht werden.

Kritische Analyse der Schweizer Lehrmittel

Die EKR hat deshalb das Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der Pädagogischen Hochschule Fachhochschule Nordwestschweiz mit einer Analyse der Schweizer Lehrmittel beauftragt. Diese Studie untersuchte, inwiefern Lehrmittel rassistische Narrative wiedergeben oder entkräftigen und wie sie gesellschaftliche Vielfalt darstellen.

Für die Studie «Rassismus und Repräsentation gesellschaftlicher Diversität in Lehrmitteln» analysierten die Forschenden rund 20 gängige Lehrmittel der Deutschschweizer Volksschule. Die Lehrmittel bezogen sich auf die Fächer Deutsch, Natur-Mensch-Gesellschaft (NMG), Wirtschaft, Arbeit, Haushalt (WAH), Räume, Zeiten, Gesellschaften (RZG) und Ethik, Religionen, Gemeinschaft (ERG). Auch Lehrmittel aus der Romandie wurden untersucht.

Die Analyse umfasste Texte und Bilder, die auf rassistische Narrative und Darstellungen von Diversität untersucht wurden. Zudem wurden Lehrpersonen zu ihrer Nutzung und Wahrnehmung der Lehrmittel befragt.

Wie steht es um Rassismus in unseren Lehrmitteln?

Die Analyse der Lehrmittel offenbart sowohl Fortschritte als auch Handlungsbedarf bei der Darstellung von Rassismus und Migration. Positiv hervorzuheben ist, dass rassistische oder diskriminierende Begriffe in den untersuchten Materialien nur vereinzelt auftreten.

Rassismus wird überwiegend als individuelles oder ideologisches Phänomen dargestellt, während struktureller Rassismus kaum Beachtung findet.

 

Kritisch zu betrachten ist jedoch, dass Rassismus weder als Fokus- noch als Querschnittsthema in den Lehrmitteln vorkommt, was primär auf dessen fehlende Verankerung in den Lehrplänen zurückzuführen ist. Wenn das Thema Rassismus aufgegriffen wird, geschieht dies vorwiegend im historischen Kontext oder in Bezug auf geografisch entfernte Regionen wie die USA oder ehemalige Kolonialländer. Dabei fehlt es laut der Studie an Bezügen zur unmittelbaren Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Zudem wird Rassismus überwiegend als individuelles oder ideologisches Phänomen dargestellt, während struktureller Rassismus kaum Beachtung findet.

Migration hingegen wird laut Studie zwar oft thematisiert, jedoch meist aus einer europäischen Krisenperspektive. Das bedeute, dass Migrantinnen und Migranten selten als autonome Subjekte dargestellt werden. In den Lehrmitteln würden sie eher als Teil abstrakter Migrationsbewegungen, illustriert durch Zahlen und Grafiken, gezeigt. Während also das Umfeld der Schülerinnen, Schüler und Lehrpersonen meist divers und differenziert beschrieben wird, wird «anderswo» in Lehrmitteln einheitlich dargestellt.

Die Repräsentation gesellschaftlicher Diversität sei in Lehrmitteln zwar vorhanden, bliebe aber inkonsistent, schreiben die Autorinnen und Autoren der Studie. «People of Color» erscheinen meist nur in Kontexten wie Armut oder Migration. Eine durchgängig diverse Darstellung in alltäglichen Kontexten fehle.

Umgang mit Rassismus und Diversität im Unterricht

Die Befragung von Lehrpersonen zeigte, dass die Thematisierung von Rassismus als offizieller Bildungsauftrag verstanden wird. Die EKR-Studie betont die starke Verankerung einer antirassistischen Haltung in Schweizer Schulen. Obwohl der Begriff «Rassismus» im Lehrplan 21 nicht vorkommt, orientieren sich Schulen an Grundrechten, Chancengerechtigkeit und Gleichstellung.

Viele Lehrpersonen gaben in der Studie jedoch an, dass die vorhandenen Lehrmittel nicht ausreichen, um das Thema im Unterricht angemessen zu behandeln. Zudem würden in der Ausbildung kaum Grundlagen vermittelt, um Rassismus im Unterricht zu thematisieren und zu moderieren.

Empfehlungen für Lehrpersonen zum Thema Rassismus und Diversität

Die Studie empfiehlt Lehrpersonen, mehr auf strukturellen Rassismus einzugehen. Rassismus sollte nicht nur als Ideologie der Vergangenheit oder ferner Orte verstanden werden, sondern Bezüge zur Gegenwart und zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler herstellen. Es sei zudem wichtig, stereotype und eurozentrische Darstellungen kritisch zu hinterfragen und vielfältige, differenzierte Bilder von Gesellschaft und Kultur zu vermitteln.

Diversität sollte als Normalität dargestellt werden, schreiben die Studienautorinnen und -autoren. Sie betonen, dass Lehrmittel und Unterrichtsmaterialien eine vielfältige Gesellschaft widerspiegeln sollen, in der alle Schülerinnen und Schüler Repräsentations- und Identifikationsfiguren finden können. Lehrpersonen sollen demnach ebenfalls bestrebt sein, ein inklusiveres und gerechteres Bildungsumfeld schaffen, das alle Schülerinnen und Schüler in ihrer Vielfalt anerkennt und wertschätzt.

Zur Person

Beat A. Schwendimann ist Leiter Pädagogik beim Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). Auf LCH.ch schreibt er für die Rubrik Bildungsforschung über aktuelle Studien und darüber, was die Erkenntnisse für Schule und Bildung bedeuten.

Datum

23.08.2024

Autor
Beat A. Schwendimann, Leiter Pädagogik LCH

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