Bildungsforschung

Wie wirkt sich schulische Selektion auf die Kinder aus?

Eine Langzeitstudie erforscht, worauf es bei den schulischen Selektionsprozessen ankommt. So lohnt es sich etwa, wenn Lehrpersonen hohe Ansprüche an Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien haben, schreibt Beat A. Schwendimann, Leiter Pädagogik LCH.

In der Bildungskarriere jedes Kindes stehen zahlreiche Entscheidungen an, denen ein Selektionsprozess vorausgeht. Foto: iStock/Ugur

Auf dem Weg von der Primarschule zur Tertiärbildung und zum Erwerbsleben werden viele Entscheidungen getroffen. Die Wisel-Studie (kurz für «Wirkungen der Selektion») der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschulen Nordwestschweiz erforscht, was da genau geschieht. Seit über einem Jahrzehnt untersuchen die Forschenden die Auswirkungen von Selektionsprozessen im Schweizer Bildungssystem. Wichtige Ergebnisse wurden kürzlich an einer Tagung vorgestellt. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Was sind die Ziele der Studie?

Die Wisel-Studie soll aufzeigen, welche Auswirkungen schulische Selektion langfristig auf Bildungs- und Berufslaufbahnen hat. Sie fokussiert darauf, wie bestimmte Merkmale der Schülerinnen und Schüler deren Bildungschancen beeinflussen. Darunter fallen etwa Faktoren wie Leistung, Motivation sowie soziale Herkunft. Aber auch Bezugspersonen, Leistungserwartungen von Eltern und Lehrpersonen sowie Merkmale der Bildungsorganisation wie die Schulniveaus im Zyklus 3 spielen dabei eine Rolle. Das Ziel ist aufzuzeigen, welche Faktoren den Bildungserfolg fördern oder behindern.

Wie ging die Wisel-Studie vor?

Seit 2011 begleitet das Forschungsteam der Wisel-Studie Schülerinnen und Schüler aus den Kantonen Aargau, Basel-Landschaft, Bern und Luzern jeweils über zehn Jahre. Die Begleitung endet fünf Jahre nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit. Die Studie startete mit 1735 Teilnehmenden im 5. Schuljahr. Vom 5. bis zum 7. Schuljahr wurden regelmässig Leistungstests veranstaltet und zu allen Messzeitpunkten wurden Befragungen durchgeführt.

Welche Erkenntnisse wurden gemacht?

Ein zentrales Konzept der Wisel-Studie ist die sogenannte Passung zwischen den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler und den Anforderungen ihres schulischen Umfelds. Treffen sich diese Bedürfnisse und Anforderungen, führt dies zu besseren schulischen Leistungen, höherer Lernmotivation und mehr Wohlbefinden. Die Beziehung zur Lehrperson, die Klasse als stützendes, soziales Umfeld sowie ein gesundes Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten der Jugendlichen wirken sich positiv auf die Passung und somit auch indirekt auf den Bildungsweg aus. Die Studie zeigt zudem, dass wichtige Weichen eines Sekundarstufe-II-Abschlusses bereits in der Primarschule gestellt werden.

Die soziale Herkunft hat erheblichen Einfluss auf die Bildungschancen.

 

In der gegliederten Sekundarstufe I wurde ein Schereneffekt beobachtet, welcher die Unterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher sozialer Herkunft weiter verstärkt. Wie andere Erhebungen zeigt auch die Wisel-Studie, dass die soziale Herkunft erheblichen Einfluss auf die Bildungschancen hat. Schülerinnen und Schüler aus sozioökonomisch benachteiligten Familien haben grössere Schwierigkeiten, höhere Bildungsabschlüsse zu erreichen. Frühe Selektionsentscheidungen führen zu einer Kanalisierung der Bildungsverläufe, was manche beruflichen Perspektiven beeinträchtigen kann.

Was bedeutet das bildungspolitisch?

Die Ergebnisse der Wisel-Studie haben Implikationen für Praxis und Bildungspolitik. Die Studie betont die Bedeutung hoher Erwartungen von Lehrpersonen und Eltern und einer förderlichen Lernumgebung für alle Schülerinnen und Schüler. Insbesondere an Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch benachteiligten Familien sollten Lehrpersonen hohe Erwartungen haben und sie ermutigen, ihr Potenzial auszuschöpfen. Die Jugendlichen können dadurch einen höheren Bildungsabschluss als ihre Eltern erreichen und damit einen Bildungsaufstieg. Lehrerinnen und Lehrer sollten mit ihrem Unterricht die Passung von individuellen Bedürfnissen, Gestaltungsmöglichkeiten und einem stützenden und fordernden Umfeld ermöglichen. Dies begünstigt die Entwicklungschancen und reduziert das Risiko eines Ausbildungsabbruchs.

Die Wisel-Studie bietet breite wissenschaftliche Grundlagen für die Diskussion um eine gerechtere Gestaltung des Schweizer Bildungssystems.

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Hier finden Sie zur Studie.

Zur Person

Beat A. Schwendimann ist Leiter Pädagogik beim Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). Auf LCH.ch schreibt er für die Rubrik Bildungsforschung über aktuelle Studien und darüber, was die Erkenntnisse für Schule und Bildung bedeuten.

Datum

01.10.2024

Autor
Beat A. Schwendimann

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