Übergänge
Wie die Pandemie den Banker zum Lehrer machte
Ronny Siev unterrichtet als Lehrer ohne PH-Abschluss. Er bringt zwar viel Lebenserfahrung mit, vertraut bei pädagogischen Fragen aber auf die berufliche Erfahrung seiner Kollegin.
Auf der Rathausbrücke mitten in Zürich sitzt Ronny Siev und isst ein Fladenbrot. Aus allen Strassen und Gassen strömen die Berufstätigen der umliegenden Büros, um Mittagspause zu machen. Sie sprechen über Wochenendpläne oder was sie sonst im Leben umtreibt.
So ähnlich waren auch die Mittagspausen von Ronny Siev, als er noch nicht unterrichtet hat. Heute spricht der ehemalige Banker in der Mittagspause kaum über Privates, sondern über ganz andere Dinge. Zum Beispiel über Kinder, die nicht still sitzen können. Oder über die didaktische Herangehensweise an ein neues Thema. Dass sich in der Pause alles um den Arbeitsplatz dreht, in diesem Fall die Schule, fasziniert Siev. «Es ist unglaublich, wie viel ich während dieser Gespräche von meinen Kolleginnen und Kollegen lernen kann», sagt er.
Übersetzen, vermieten, dozieren
Die Faszination fürs Lernen auf allen Ebenen zieht sich durch Sievs berufliche Biografie. Der Politikwissenschaftler ist nicht nur vielseitig interessiert, sondern hat reichlich Erfahrungen in diversen Berufsfeldern gesammelt. «Immer wenn meine Lernkurve flach wurde, wusste ich, dass es nun an der Zeit ist, beruflich etwas zu ändern», sagt Siev.
So arbeitete er in Südamerika als Übersetzer, vermietete in Mallorca Yachtplätze und war dann noch mehrere Jahre als «Private Banker» tätig. Später arbeitete er als Dozent für internationales Management und internationale Betriebswirtschaft an einer Fachhochschule und war Geschäftsführer der grünliberalen Partei. Nun arbeitet er nebenberuflich als Fundraising-Verantwortlicher bei einer NGO und engagiert sich im Stadtzürcher Parlament, dem Gemeinderat.
Mit dem Unterrichten begann er wegen der Pandemie. Vor einem Jahr fielen viele Lehrpersonen krankheitshalber aus und mussten in Quarantäne. Siev sprang während mehrerer Monate als Stellvertreter ein. Für das laufende Schuljahr ist er jetzt befristet angestellt. Für ein Jahr unterrichtet er dabei als Fachlehrer einer ersten Klasse in einem Teilpensum von 37 Prozent.
Begeistert vom Lehrerberuf
Siev sitzt an diesem schönen Herbstmittag entspannt da. Die Brücke unter ihm wirkt symbolisch für die Verbindung zwischen den verschiedenen beruflichen Welten, in denen er sich zurzeit bewegt. Dass ihn beide berufliche Engagements erfüllen, ist spürbar.
Von seiner Arbeit als Lehrer ist Siev begeistert: «Die Offenheit, die Frische, diese wunderbare Energie, die grosse Neugierde der Kinder – all das gefällt mir sehr. Das Unterrichten macht mir zudem grossen Spass.» Diese Freude an der Arbeit mit den Kindern hilft ihm, die Herausforderungen des Berufs zu bewältigen. Schülerinnen und Schüler, die nicht still sitzen können, Grimassen schneiden, blödeln, herumrennen: «Als Vater weiss ich in etwa, wie Kinder ticken. Doch was das für einen Unterricht mit über 20 Kindern bedeutet, war mir nicht klar», sagt er.
Eine grosse Herausforderung sei für ihn deshalb nicht nur, den Schulstoff adäquat auf- und vorzubereiten, sondern angemessen auf das Verhalten der Kinder zu reagieren: «Wann sanktioniere ich eine Handlung, wie bringe ich die nötige Ruhe in die Klasse?» Und: «Wie werde ich jedem einzelnen Kind gerecht? Widme ich mich nur den lauten Kindern oder auch den leisen?» All diese Fragen beschäftigen ihn. Fragen und Schwierigkeiten bespricht er mit seiner Teamkollegin, welche die Funktion als Klassenlehrerin innehat. Einmal pro Woche hat er zudem eine halbe Stunde Coaching zugute. Dabei tauscht er sich mit dem Heilpädagogen der Schule aus.
Lernen im Pausenraum
Zur Vorbereitung auf sein neues Berufsfeld besuchte Siev in den Sommerferien einen fünftägigen Kurs der PH Zürich. Dieser sei interessant, aber eindeutig zu kurz gewesen: «Alles, was ich glaubte, in den fünf Tagen zu lernen, lerne ich heute während der Gespräche in der Pause im Lehrerzimmer, von meiner Teamkollegin und im Coaching», sagt er.
Dieses tägliche Lernen bei der Arbeit ist nur möglich, weil sich seine Kolleginnen und Kollegen Zeit nehmen für ihn und seine Fragen. Zudem sitzen Siev und seine Teamkollegin zwei Stunden pro Woche zusammen, diskutieren über die Kinder und bereiten den Unterricht vor.
«Meine Teamkollegin leistet ganz klar einen Zusatzaufwand», sagt Siev. Dafür gebe es bei ihnen keine langfädigen Diskussionen, wie sie andere Teams teilweise führten. «Ich rede ihr nicht drein.» Die Klassenlehrerin bestimmt, wie die Klasse geführt wird, welche Unterrichtsformen und welche Schulbücher zum Einsatz kommen. Er ordne sich da unter. «Ich habe zwar Lebenserfahrung, sie aber hat als Lehrerin die Berufserfahrung und ist die Klassenlehrerin. Deshalb ist es klar, dass sie die Richtung vorgibt.»
Siev schätzt die Unterstützung durch seine Kollegin und das Team: «Das ist extrem wertvoll. Würden mich die Lehrkräfte an meiner Schule im Stich lassen, hätte ich ein Problem. Ich könnte es noch verstehen, würden sie dies tun. Denn ich habe keine Lehrerausbildung und darf trotzdem unterrichten. Das könnte schon Widerstand hervorrufen.» Ressentiments gegenüber ihm und seiner Arbeit spürte Siev bis jetzt allerdings nicht. Zwar sei im Elternrat die Anstellung eines Laienlehrers thematisiert worden. Ihm gegenüber habe sich jedoch niemand negativ geäussert. Im Gegenteil: «Ein Vater sagte am Elternabend, er fände es toll, dass auch Leute mit anderen beruflichen Erfahrungen unterrichten.»
Die letzte «unregulierte Ecke»
Die Mittagspause neigt sich dem Ende zu. Die Berufstätigen, welche die Pause an der Sonne verbracht haben, kehren zurück in ihre Büros. Die meisten von ihnen dürften einen Ausweis in der Tasche haben für das Berufsfeld, in welchem sie arbeiten. «In der Schweiz braucht es ja für alles ein Diplom», sagt Siev. Als Lehrer ohne Diplom sei es ihm nun möglich, «in der letzten unregulierten Ecke der Schweiz» zu arbeiten, weil die Notlage so gross sei. Diese Flexibilität der Schulen, nach unkonventionellen Lösungen zu suchen, gefällt ihm.
Ob er auch noch im nächsten Schuljahr unterrichten wird, ist unklar. Seine Anstellung ist auf ein Jahr befristet. So sieht es das Zürcher Volksschulgesetz vor. Um weiter unterrichten zu können, müsste er nachträglich ein Lehrdiplom erwerben. Dafür müsste die PH Zürich ihre Ausbildung für den Quereinstieg jedoch anders strukturieren, sagt Siev: «Ich habe familiäre Verpflichtungen und kann nicht längere Zeit auf mein Einkommen verzichten.»
Vorerst hat Siev sowieso noch andere Ziele. Diese betreffen seinen Unterricht: «Meine Schülerinnen und Schüler sollen lernen, kritische Fragen zu stellen und so besser bereit sein für die Herausforderungen des Lebens.»
Diesen Artikel und mehr zum Thema Quereinstieg können Sie auch in der Dezember-Ausgabe von BILDUNG SCHWEIZ lesen.
Datum
Autor
Mireille Guggenbühler
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