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Kommentar

Sind Schulnoten noch zeitgemäss?

Viele Lehrbetriebe verlangen keine Schulzeugnisse mehr. Sie setzen stattdessen auf eigene Tests oder Assessments externer Anbieter. Braucht es daher noch Schulnoten? Beat A. Schwendimann, Leiter Pädagogik LCH, findet: Eine Reform der Beurteilungspraxis ist dringend nötig.

Das Bewertungssystem mit klassischen Ziffernnoten sollte überdacht werden, schreibt Beat A. Schwendimann, Leiter Pädagogik. Foto: LCH/Philipp Baer

Zeugnisse und Noten spielen bei Übergängen eine wichtige Rolle, vor allem am Ende der Sek I Stufe. Seit einigen Jahren wird der Stellenwert des klassischen Schulzeugnisses jedoch verstärkt in Frage gestellt, beispielsweise von der Wirtschaft. Viele Lehrbetriebe setzen lieber auf standardisierte Tests kommerzieller Anbieter, während andere – beispielsweise die Swisscom – gänzlich auf Zeugnisse verzichten und stattdessen interne Assessments einsetzen. 

Keine Einigkeit unter Lehrpersonen

Wenn künftig immer weniger Lehrbetriebe Schulzeugnisse verlangen, werden Schulen weiterhin angehalten sein diese zu vergeben? Der Streit über das Für und Wider von Noten ist so alt wie das Schulnotensystem selbst. Auch unter Lehrpersonen herrscht diesbezüglich keine Einigkeit. Befürworter der Ziffernoten betonen, dass Noten einfach zu verstehende und vergleichbare Orientierungshilfen sind, die den Leistungswillen anspornen und auf die Leistungsgesellschaft vorbereiten. Gegner von Noten entgegnen darauf, dass eine notenfreie Schule keine bewertungsfreie Schule ist. Die Leistung einzuschätzen kann statt über abstrakte Zahlen auch durch Selbstreflexion, durch prozessorientiertes Feedback, auf individualisierten, selbstgesteuerten Wegen und in konkreten Kompetenznachweisen erfolgen. 

Ziffernnoten fördern Reflexion kaum

Aus pädagogischer Sicht dienen Leistungsbeurteilungen dazu, den Schülerinnen und Schülern konstruktive und informative Rückmeldungen zu geben. Diese Rückmeldungen müssen verständlich und nachvollziehbar sein, um zur Selbstreflexion anzuregen. Selbstreflexion ist eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiches, lebenslanges Lernen. Wissenschaftliche Studien deuten darauf hin, dass Ziffernnoten kaum Selbstevaluation und Reflexion fördern und eine Scheinpräzision vermitteln. Ziffernnoten sind keine absoluten Werte, sondern ein relativer, sozialer Vergleich innerhalb einer Klasse oder gegenüber vorgegebenen Vergleichswerten. Ein integratives Schulsystem legt aber den Fokus auf die individuellen Lernfortschritte jedes Kindes, sowie die persönliche soziale, emotionale und mentale Entwicklung.

Reform ist dringend notwendig

Aus Sicht des LCH sollen zeitgemässe Leistungsbeurteilungen dazu dienen, differenzierte Lernprozesse sichtbar zu machen und den Kompetenzerwerb aller Schülerinnen und Schüler ganzheitlich zu unterstützen. Es ist äusserst schwierig, eine so tief verankerte Tradition wie Ziffernnoten zu verändern. Eine Reform der Beurteilungspraxis ist aber dringend notwendig. Die EDK sollte die Führung eines breit geführten Dialogs übernehmen, an dem Schulpraxis, Lehrpersonenbildung, Bildungsforschung, Wirtschaft, Behörden und Bildungspolitik beteiligt sind. Der Lehrplan 21 würde hier durchaus Spielraum für Reformen gewähren.

Der «Standpunkt» ist eine monatliche Kolumne der Geschäftsleitungsmitglieder des LCH. Die Aussagen geben die persönliche Meinung der einzelnen Autorinnen und Autoren wieder.

Datum

27.09.2022

Autor
Beat A. Schwendimann

Publikation
Standpunkte

Themen